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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 39

Text

NOTIZEN. 39

-ein Verfahren, welches das Bild
wohl vervollständigt, ohne zur Ver-
tiefung der bisherigen Kenntniss
von derlei beizutragen.

—ch—.

Hermann Bahr hat am ver-
flossenen Sonntag im Bösendorfer-
Saale Bruchstücke aus der Novelle
«Verschollen« von Marie Ebner-
Eschenbach
und der »Pincelliade«
von Ferdinand v. Saar vorgelesen.
Eine »Conférence« in französischer
Art bildete dazu die Einleitung.
Bahr’s geistige und körperliche An-
lage kommen seiner Absicht, diese
liebenswürdige Pariser Sitte auch
im »kälteren Deutschland« einzu-
führen, wohl zu statten. Bei der
»Conférence« legt der Vortragende
die Amtstracht des Belehrenden ab,
er stellt sich auf das Niveau seiner
Zuhörer und tritt mit ihnen in einen
unbefangenen Verkehr — ja, er
muss sogar auf Einwände und
Zwischenreden gefasst sein. Diese
Art, seine Gedanken auf das Pu-
blicum zu übertragen, erfordert eine
nicht leicht ermüdende geistige Be-
weglichkeit, die Fähigkeit, für Ge-
danken schnell eine geschliffene,
den Zuhörer packende Form zu
finden, und deren Ueberzeugungs-
kraft durch ein angenehmes Organ,
eine sympathische Persönlichkeit
und hie und da durch eine discrete,
aber bezeichnende Geberde zu unter-
stützen.Was ein Professor sagt, muss
wahr sein, wie er es sagt, muss
gut sein. Sein Was wird den Zu-
hörern mit dem amtlichen Stempel
übergeben, sein Wie kann dem
Gewicht des letzteren so wenig
Abbruch thun, als die Unleserlich-
keit der Unterschrift eines hohen
Functionärs dem Dictat seines
Willens. Der Conferencier tritt aus
dem akademischen Höhennebel

heraus und gibt seine Endlichkeit
dem unmittelbaren Beschauen in
nächster Nähe preis. Bahr besitzt
alle erforderlichen Eigenschaften für
solch freien Vortrag. Er unterhält.
Es macht immer Vergnügen, ihn
reden zu hören, auch im Falle wir
seine Anschauung nicht zur unse-
rigen machen wollen oder können.
Am Sonntag wies Bahr mit vollem
Rechte darauf hin, das die litera-
rische Bewegung in Wien, soweit
eine solche wirklich nachweisbar
ist, sich auf das Theater beschränke,
dass Gedicht, Novelle und Roman
bei Publicum und Verlegern noch
immer einer fatalen Gleichgiltigkeit
begegnen, und dass es wünschens-
werth sei, das Interesse für diese
Kunstgattungen in weiteren Kreisen
wachzurufen. Ein Mittel, welches
diesen allerdings zu ersehnenden
Umschwung herbeiführen soll, will
Bahr in Vorlesungen guter Werke
dieser Gattungen gefunden haben.
Sie sollen den oder die literari-
schen Salons ersetzen, die wir in
Wien leider nicht besitzen, und die
in anderen Städten der Verbreitung
guter Literatur und neuer Be-
strebungen so förderlich sind. Wird
dieser Weg zum Ziele führen? Wir
wünschen es. Am Sonntag hat ihn
Bahr dem kleinen Häuflein derer
bezeichnet, die der Vorwurf, sich
um die Erscheinungen der Literatur
nicht zu kümmern, kaum treffen
kann. In Wien wären vielleicht
Evangelimänner der Literatur am
Platze, welche zu versuchen hätten,
ob sich Leute fänden, die es vor-
ziehen, sich — statt mit der zehn-
tausendsten, von keiner That ge-
folgten Rede des Herrn Dr. Lueger
— mit dem guten Product eines
Dichters bekannt zu machen.

G. S.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 39, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0039.html)