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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 54

Text

54 PANIZZA.

krümmten Hand. Lautlose, steinern-harte Stille herrschte jetzt in dem
gelben Saal. Es war wie Pfingstfeier, als sollte der heilige Geist her-
niederstürzen in gelben, flammenden Zungen. Und so lagen sie dort
die gekrümmten schwarzen Gestalten zwischen den gelben Bänken.

Nur der Fremdling blieb hartnäckig hocken auf seinem Platz;
denn er war ja ein Commis voyageur.

Und nun begann’s. Eine nach der Andern, in schluchzend-hände-
ringendem Ton, ausströmende Gefühle in bitter-bussfertigem Ton zu
bekennen. Wie aus geöffneten, stark duftenden, gelben Blumenkelchen
quoll hier die Sünde wie Safran und erfüllte den ganzen Raum. Hun-
derte zusammengedrängte Sonnenblumen offenbarten hier ihre längst
vergessnen Thaten und vergebnen Sünden. Und dieses Schluchzen
und Stöhnen! Und »Jaah!« accompagnirte immer der Chor bei den
ergreifendsten Stellen. »Jaah!« wie Schäfchen meckern, wie Kinder
stammeln, »Jaah!« als hätten sie Alle das Bekannte durchmachen müssen,
die Busse erleiden müssen, als wären sie Alle krank und zermartert.

Und dann kam wieder eine Andere. Sie schlug einen tieferen,
dunkleren, stammelnderen Ton an wie eine Oboe, die in tausend
Aengsten wimmert, ein gelbes Holz-Blasinstrument, das Sünde blutet,
mit gequälten Flaschonett-Tönen und gestopften Lauten. Und seufzend
echote der Chor und betheiligte sich an der Busse.

So lagen sie drinnen zwischen den gelben Bänken, die geknickten
Gestalten, wie geköpfte Mohnblumen zwischen gelben Maisfeldern. Und
des Jammerns war kein Ende.

Jetzt schaute der Commis voyageur auf seine Uhr.

»Unser Glück! Retten Sie sich! Retten Sie Ihre Seele!« rief die
schwarze Gestalt neben ihm.

Aber der Commis erhob sich in seiner ganzen Voyageur-Grösse,
denn er hatte um 9 Uhr Rendez-vous, und es war jetzt 10 Minuten
auf Neun.

»Bleiben Sie!« rief sein schwarzer Mentor mit den flehenden
Augen. »Bleiben Sie bei uns! Bleiben Sie bei unserem Glück!«

Aber der junge Mann, bei dem der Seelenprocess schon abge-
laufen war, sagte mit seiner ganzen Commis-voyageur-Impertinenz: »Ich
bedauere sehr — aber ich habe um 9 Uhr Rendez-vous, und jetzt ist
es 10 Minuten auf Neun.«

Sie aber bat, und Andere kamen und hingen sich an ihn und
baten mit ihren verweinten Augen und verwelkten Brüsten: »Ach,
bleiben Sie! Bleiben Sie bei uns!« — »Jaah!« raisonnirte der Chor mit
stammelnden Lauten wie verheissendes Kinderglück, und bitterlich
schluchzten die schwarzen Blumen zwischen den gelben Bänken.

»Ich bedauere sehr,« rief wiederum der Commis, »aber bei mir
ist die Sache vorbei.«

»Ach, ach, ach!« rief nun Alles zusammen, und man versperrte
ihm den Weg. Und hinten fingen die Jüngsten wieder an zu jubiliren,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 54, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0054.html)