Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 81
Text
Wiener Rundschau.
15. DECEMBER 1897.
VISION.
Dramatische Phantasie von Kazimir Tetmajer.
Deutsch von Leonhard Brixen.
(Eine Meeresbucht im Westen. Traurig hinwelkende, herbstliche Vegetation.
Kahle, schroffe Felsen und eine öde Sandbank, auf die man Fischerboote ans
Land gebracht hat. Graues, nebliges Wetter, der Tag geht zur Neige. Einige
Möven kreisen über dem Wasser. Andreas, ein siebzehnjähriger Fischerknabe,
liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken im Sande. Maria und der
Priester sitzen in der Nähe auf einer moosbewachsenen Felsbank. Maria ist
einfach und dunkel gekleidet, nur eine breite weisse Halskrause fällt bis auf die
Schultern nieder. Brünett, tiefblaue Augen, ein längliches, mattbleiches Antlitz
mit kirschrothen Lippen. Der Priester ist alt, weisse Haare.)
Der Priester. Ich wollte, dein Bruder Gerhard wäre zurück.
So lange hab’ ich ihn nicht gesehen.
Maria. Weisst du, Onkel, länger als zwei Wochen ist es her,
seit die letzten Fischerboote heimkehrten. Mich quält die Angst, ihm
könnte ein Unglück widerfahren sein. Eis und Kälte sind jäh herein-
gebrochen, so berichteten die Heimgekehrten.
Der Priester. Wie sonderbar mir zu Muthe ist. Weile ich
doch erst einige Stunden unter euch. So viele Jahre war ich fern,
habe in einer so fremden Welt gelebt, und doch ist es mir, als hätte
ich dieses Land nie verlassen, als wäre Alles, was hinter mir liegt, ein Traum.
Maria. Jetzt aber bleibst du bei uns, Oheim, nicht wahr?
Der Priester. Ja, mein Kind. Ich bin zu alt, um weiterhin
noch den Missionsdienst zu versehen. Die Reihe ist an den Jüngeren.
Ich bleibe hier und will hier begraben werden, wo alle meine Vor-
fahren ruhen.
Maria. Mit Ausnahme derer, die das Meer verschlungen.
Der Priester. Ja, mit Ausnahme derer, die auf dem Meeres-
grunde ruhen. Gott schenke ihnen die ewige Ruh’. — Also fünf Jahre
sind es her, seit euere Mutter gestorben ist?
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 81, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0081.html)