Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 91
Text
Von Stefan Grossmann (Paris). I.
Ach, es ist kein Vergnügen mehr, von Paris zu berichten. In
allen Winkeln von Paris kriechen deutsche Literaten herum, auf den
Boulevards, im quartier latin, in Montparnasse, überall taucht plötzlich
unvermuthet irgend ein Wiener, Berliner oder Münchener Literat auf,
und jeder von ihnen wird sicher ein besserer Berichterstatter, ein Maler
mit leuchtenderen Farben sein als der Schreiber dieses. Man darf auch
nicht vergessen, dass wir jungen Scribenten an der Literatur hängen
wie eine brünstige Frau an ihrem armen Erwählten. In keiner Situation,
auch nicht in der nacktesten, vergisst ein literarischer Jüngling seinen
Bleistift. Er stürzt sich in den Strom des Lebens, vielleicht ohne
Schwimmgürtel, aber niemals ohne Notizbuch. Er meint, was ein kleiner,
»greller Napoleon« der Literatur — um dieses unvergängliche Wort
eines Wiener Waarenlieferanten zu gebrauchen — werden soll, dürfe
sein Schwert niemals aus den Händen lassen! So kommt es, dass die
Deutschen jedes Jahr einen oder zwei »Romane aus dem quartier
latin« erhalten, dass sie über alle Literatur- und Theaterereignisse aus
Paris viel besser unterrichtet sind, als es bei der beginnenden Mono-
tonie des französischen Salonstückes nothwendig wäre! Und wie ähn-
lich sehen sich alle diese Berichte aus Paris, wie billig wird diese
Eleganz des espritvollen Berichterstatters, wie gleichartig sind alle diese
Romane aus dem quartier latin!
Einer von den heitersten Parisern, Courteline oder Bill Sharp,
sollte sich einmal den Spass machen und ganz genau die Route auf-
notiren, welche alle sensationssuchenden Literaten, Einer wie der
Andere, gleichmässig durchmarschiren. Sie haben sich gewöhnlich kaum
noch die Hände gewaschen und eilen schon Abends ins Moulin rouge.
Morgen geht man zu bullier auf den Studentenball, übermorgen sieht
man Yvette Guilbert in der Scala u. s. w. Ach gewiss, das Alles
sind sehr sehenswürdige Dinge, aber weshalb kommt keiner auf den
Einfall, sich die nichtsehenswürdigen Dinge anzusehen? Gewiss, tausende
Pariser drängen in die Scala und wollen Yvette Guilbert hören, aber
daneben gibt es in Paris hundert oder zweihundert kleine, versteckte
Bühnen, Café-concerts, Cabarets
Das ist das Erheiternde, wenn man oben auf dem Berge von
Montmartre wohnt: Diese vielen hereinströmenden Fremden zu beob-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 91, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0091.html)