Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 95

Die Suggestion bei Shakespeare (Unger, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 95

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DIE SUGGESTION BEI SHAKESPEARE.
Von Franz Unger (Wien).

Unerschöpflich reich an geistigen Genüssen ist für den, der ihn
richtig zu lesen und zu verstehen vermag, der den ganzen Gedanken-
inhalt seiner Werke zu erfassen fähig ist, William Shakespeare. Wie in
keines anderen Dichters Schöpfungen wimmelt es in den seinen von
Stellen, wo das Seelenleben des Menschen einer Analyse unterzogen
wird, bei der man nicht weiss, was man mehr bewundern soll: die
Tiefe der Gedanken oder die Erhabenheit des Ausdruckes, die oft
grauenvolle Lebenswahrheit seiner Schilderungen, oder den logischen
Scharfsinn der von ihm gebrauchten Beispiele. Dabei ist er, wie kein
Zweiter, seiner Zeit weit vorausgeeilt. Wie viele Stellen finden sich
doch in seinen Werken, die, herausgelöst aus dem Rahmen, der sie
umfasst, uns anmuthen, als wären sie erst seit gestern geschrieben. Und
besonders heute, da Hypnotismus und Suggestion einen be-
liebten Gesprächsstoff bilden, ist es an der Zeit, auf eine Scene im
»König Lear« hinweisend, hervorzuheben, wie sehr Shakespeare
in seinem Innern die Ahnung von dem Vorhandensein geheimnissvoller
psychischer Kräfte trug, deren wissenschaftliche Erforschung einer so
viel späteren Zeit vorbehalten blieb. In jener Scene, es ist die sechste
des vierten Aufzuges, schildert Shakespeare mit solcher Meister-
schaft und Gemüthstiefe die Macht der Suggestion, dieses Forschungs-
problems des XIX. Jahrhunderts, dass es wohl der Mühe werth ist,
sich in das Studium dieser einen Scene zu vertiefen.

Vorerst aber die Frage: Was versteht man heute unter Suggestion?
Wenige Worte mögen hier genügen.

Eine Vorstellung der Phantasie kann je nach grösserer oder
geringerer Intensität organische Veränderungen am oder im mensch-
lichen Körper hervorrufen. Schon unsere gewöhnlichen, uns durch das
Gehirn bewusst werdenden Vorstellungen, lösen entsprechende Thätig·
keiten der Organe aus, so z. B. ist die Vorstellung des Gehens die
Veranlassung dieses selbst, indem eine Einwirkung auf jene Ganglien
der Bewegung stattfindet, deren Inactiontreten das Gehen verursacht.
Oft kommt eine derartige Vorstellung nicht erst zum Bewusstsein,
sondern äussert sich unmittelbar durch entsprechende Thätigkeit ent-
sprechender Organe, wie bei jenem Gelähmten, von dem Van Swieten
erzählt, der auf und davon lief, als er sich einem vermeintlichen Ge-
spenste gegenüber sah, und der fortan den Gebrauch seiner Füsse
wieder gefunden hatte. Es war dies eine Wirkung der Phantasie als
magische Kraft, magisch deshalb, weil der ganze Vorgang innerhalb des
Natürlichen und Gesetzmässigen nicht gelegen zu sein scheint. Es fehlt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 95, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0095.html)