Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 96
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eben zum Verständniss desselben jener Schlüssel, der so lange vermisst
wurde, und den die Psychologie unseres Zeitalters endlich fand: die
Suggestion. Die Suggestion ist die Uebertragung einer Gehirn-
vorstellung auf ein anderes Subject, die Captivirung einer fremden
Phantasie mit Vorstellungen, die der eigenen, schöpferischen Phantasie
entsprungen sind, oder die sich für den betreffenden Percipienten aus
bestimmten Handlungen schlussfolgernd ergeben müssen. Um die Trag-
weite der Einwirkung solcher Suggestionen zu controliren, und damit
die Macht der Phantasie über den Körper zu erforschen, stellte die
medicinische Facultät in Montpellier nachstehenden Versuch an,
der nur der Aehnlichkeit mit dem Vorgange bei Shakespeare
wegen, erwähnt wird. Man kündigte einem zum Tode Verurtheilten an,
dass er durch schmerzloses Oeffnen der Adern getödtet werden würde.
Darauf band man ihn mit verbundenen Augen auf die Platte eines
Tisches, ritzte ihn ein wenig an Armen und Füssen, und liess einen
dünnen Strahl lauwarmen Wassers über die Wunden rieseln, um das
Gefühl des Blutabganges hervorzurufen. Der Deliquent, der während
der ganzen Dauer des Experimentes alle Erscheinungen zunehmender
Anämie zeigte, starb nach Verlauf einer Stunde — als das Opfer einer
consequent durchgeführten Suggestion.1) Die Vorstellung des Todes
hatte ihn getödtet.
Aehnlichen Phantasievorstellungen mit ähnlicher, nur aufgehaltener
Wirkung ist Herzog Gloster in der angezogenen Stelle des »König
Lear« unterworfen. Nachdem er — Gloster — durch seinen Sohn, den
Bastard Edmund, an den Herzog von Cornwall und dessen un-
menschliche Gemahlin Reginald verrathen wurde, und in Folge
Blendung beide Augen verlor, stösst man ihn — in der ersten Scene
des sechsten Aufzuges — auf die Strasse, damit er sich »den Weg
nach Dover riechen möge«. Edgar, sein echter Sohn, durch Ed-
munds Intriguen vom eigenen Vater geächtet, und als verrückter
Bettler verkleidet, im Lande herumirrend, schliesst sich an ihn an, um
ihn zu führen. Gloster glaubt sich des Narren zur Ausführung seines
Selbstmordplanes bedienen zu können. Deshalb fragt er ihn, ob er den
Weg nach Dover kennt, und als der »Narr« bejaht, begehrt er, von
ihm hingeführt zu werden.
Gloster.
Wo einer Klipp’ höh’ überhängend’ Haupt
Blickt furchtbar in von ihr begrenzte Tiefe;
Bring’ an den Rand, den äussersten mich dort,
Und bessern will ich ’s Elend, das du trägst
Mit mitgebrachtem Reichthum — von dem Platz
Bedarf ich keines Führers.2)
Edgar, der seines Vaters Selbstmordplan durchschaut, beschliesst,
ihn durch scheinbares Eingehen auf alle seine Wünsche zu erretten.
1) Tissot »Ueber die Nerven«.
2) Diese und die folgenden Stellen aus »König Lear« sind eigene Ueber-
setzung, da die vorhandenen Uebertragungen gerade dieser Stellen zu sehr vom
Originalwortlaute verschieden sind.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 96, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0096.html)