Text
Wiener Rundschau.
1. JANUAR 1898.
BETRACHTUNGEN ÜBER DIE ZIELE UNSERER ZEIT.
Von Camille Mauclair (Paris).
Autorisirte Uebersetzung von St. G.
Eine Studie, die ich jüngst veröffentlichte, hat mir mehrere Briefe
von jungen Leuten verschafft. Ich habe in der erwähnten Arbeit aus-
einandergesetzt, dass nach meiner Meinung unseren Intelligenzen die
Charaktere mangeln, ich betonte die Activität aller Energie und ich
wollte — endlich! — sagen, bis zu welchem Grade mich die Atmo-
sphäre meiner Generation bedrückt, und meinen unabänderlichen Be-
schluss bekunden, diese Wege der Depression zu verlassen. Ich habe
damit an eine Wunde gerührt. Aber es ist die tiefste Ueberzeugung,
welche ich in sieben Jahren der Schriftstellerei erworben habe — meine
Neigung zu moralischen Werthungen ist daran theilweise schuld — dass
die Persönlichkeit eines Schriftstellers unzertrennlich ist von seinen
Büchern, so dass es keine noch so glänzende Intelligenz gibt, welche
nicht zusammenbrechen musste ohne die entsprechende Grösse der
privaten Eigenschaften, ohne die unaufhörliche Veredlung des ver-
borgenen, privaten Menschen. Diese letztere Arbeit ist in meinen Augen
der Beweis der ersteren, so dass ein Werk niemals die Entschuldigung
für die Charakterarmuth seines Verfassers sein kann. Kein wirkliches
Kunstwerk besteht in meinen Augen ausserhalb dieser Bedingungen,
wenigstens gegenwärtig haben die Spielereien der Talente, so geistreich
sie sein mögen, aufgehört mich zu bewegen. Ein Gedanke von Milton,
der mir nicht willkürlich schien, wird mir jetzt ganz klar: »Der wahre
Poet achtet darauf, dass sein Leben seine beste Dichtung sei!« Der
Mensch soll das lebende Symbol seiner Grundsätze sein. Wir aber
haben daran uns gewöhnt, unseren Grundsätzen sehr viel schuldig zu
bleiben und im Nothfall ein paar ironisch fatalistische Entschuldigungen
zu stammeln. Der Fehler liegt darin, dass wir Alles nur mit Worten
bezahlen, dass wir nicht leben können und uns sehr verschmitzt be-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 121, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0121.html)