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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 122

Text

122 MAUCLAIR.

trügen. Es ist beinahe gleichgiltig, ob wir eine Sache tragisch oder,
im Gegentheil, phlegmatisch nehmen, unsere ganze Thätigkeit besteht
im Denken. Man ermuntert sich nur den brummenden Schädel und
das verödete Herz. Es wäre endlich an der Zeit, die zwei oder drei
festen, wenn auch nicht glänzenden Vorschriften zu finden, die ge-
nügen, eine moderne Existenz ethisch zu begründen. Und es ist gar
kein grosses Genie nothwendig, um sie zu erringen. Sie sind wahr-
scheinlich schon ganz nahe. Es würde genügen, sie in gutem Glauben
und ohne Subtilitäten zu suchen. Aber das ist das Schwere: der gute
Glaube und der Mangel an Subtilitäten, das ist es gerade, was uns am
meisten fehlt.

Haben die jungen Leute, welche mir schrieben, gleichfalls dieses
gebieterische Bedürfniss nach diesen einfachen Eigenschaften gehabt?
Haben sie mir deshalb geschrieben? Ich zweifle, ob sie es gethan hätten,
wenn ich eine rein literarische Frage aufgeworfen hätte, denn schliess-
lich haben wir genug Literatur getrieben. Sie interessirt uns nicht mehr
sehr und wir werden ohnehin noch von ihr reden müssen. Wir haben
uns so viel mit Worten amusirt
, lassen wir sie nun ein
wenig ausruhen
! Und uns desgleichen! Wir wissen ja, wie das
gekommen ist: Es gibt zu viel Formen für das, was heutzutage zu
sagen ist. Wir sind nahe daran, von jedem literarischen Werk, abgesehen
von einem gewissen Quantum Amusement, eine bestimmte ethische
Signatur zu verlangen. Es war also nur wahrscheinlich, dass auf eine
vereinzelte Erklärung hin andere Leute gleichfalls in sich gegangen
sind und sich die Musse nahmen, mir zu antworten: »Sie fühlen sich
in dieser Atmosphäre nicht wohl? Aber wir ja auch. Sie haben
genug? Wir desgleichen. Aber — was thun?« Aufrichtig gesagt, ich
habe nicht gedacht, dass man so schnell zu dieser Frage kommen
werde. Es ist schon ein grosses Resultat, dass man sie ernsthaft stellt.
Schwer genug ist es, aus diesem Labyrinth zu entkommen. Aber jenes
Labyrinth, welches man gar nicht verlassen will, ist das schrecklichste.

Es schien mir, dass ich mit dem Satze: »Viele können
schreiben
, aber Wenige können leben« den Finger auf eine
Wunde der Gegenwart lege. Wenigstens, dachte ich, auf meine Gegen-
wart! Nun habe ich auch andere junge Leute rufen gehört, und es
scheint, dass sie sich ebenso wund fühlen und an denselben Standpunkt
gelangt sind wie ich. Diese Briefe fragen mich: »Was thun?« Es
scheint mir, dass, wenn einer der jungen Leute, die mir schrieben, vor
mir sässe und der Moment den Reflexionen und Vertraulichkeiten
günstig wäre, ich nichts Anderes sagen könnte als etwa dieses:

»Sie fangen an zu verstehen, dass der Symbolismus, der Naturismus
und die anderen Praktiken, das, was ich die Leidenschaften des
Kopfes
nenne, zu nichts Rechten führen? Es ist klar, dass ein Mensch,
der das Leben der Gegenwart mit gesunden Sinnen betrachtet, und
der, zurückgekehrt in sich, keine andere Conclusion findet, als Verse
zu schreiben, zumindest ein wenig schwächlich ist. Und dennoch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 122, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0122.html)