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haben sich drei Viertel unserer Kameraden damit beschäftigt. Wenn
wir versucht haben, mit ihnen von anderen Dingen zu reden, so haben
wir sie wenig gestört. Sie sind so beschäftigt mit ihren Zänkereien über
die Verskunst, über die Prosa in Versen oder die Verse in Prosa, es
ist beinahe fraglich, ob das Leben umfassender sein kann als all diese
Fragen. Aber dieses ganze Zeug langweilt Sie? Die Balladen, Sonette,
Versspiele befriedigen Sie nicht mehr? Sie begreifen auch, dass da?
Ausdrücken seiner selbst durch den Styl über all diesen Spielereien
steht und dass die Literatur mehr bedeutet als eine Carrière?
Allein Sie wissen nicht, was man an Stelle dieses Firlefanz und dieser
Ammenmärchen setzen soll? Die moralische Gewichtigkeit des Bücher-
schreibens lockt Sie und ich zerstöre viel in Ihnen, wenn ich jetzt von
»Charakter« rede und Ihnen rathe, vor Allem diese unerträgliche
Atmosphäre zu verlassen. Haben Sie nicht auch, indem Sie bei diesem
Abscheu anlangen, ein gründliches Gefühl der Aufrichtigkeit?
Ich bitte Sie, mich nicht misszuverstehen. Ich beschuldige keinen
bestimmten Schriftsteller, ich behalte nicht die Menschen im Auge,
sondern die Grundsätze, welche sie bewegen. Ich bestreite, über allen
diesen Individuen, das Lebensprincip dieser Gruppe. Ich be-
schäftige mich nur mit falschen Ideen, und diese sind es, nicht die
Menschen, die uns bedrücken. Hier liegt eine vor, und sie ist der
Grund unserer Qual. Es ist die Vorstellung, welche wir uns von der
Beschränkung der Kunst machten. Wir haben uns selbst gefangen ge-
halten, wir haben es nicht gewagt, in unserer Zeit zu bestehen. Heute
ersticken wir in unserer engen Atmosphäre, aber wir wagen uns nicht
ins Freie, weil der Lärm der Welt uns Kopfweh verursachen könnte.
Und trotzdem leben und handeln alle Anderen in diesem Lärm! Wagen
wir es, dieser ersten Betäubung zu trotzen, je länger wir es versuchen
werden, umsomehr werden wir aufblühen. Das Bett schwächt den
Kranken, wenn er schon einmal ausgeruht ist!
Unsere Generation hat gerade so viel Talent wie jede andere,
vielleicht sogar mehr in vielen Punkten. Sie hat undenkbar viel Mittel
gefunden, welche den jungen Leuten Wege zur Entfaltung ihrer Sensi-
bilitäten eröffneten, so dass sie sich heute in jeder Weise gehen lassen
können. Trotzdem stirbt die Literatur dieser Generation? Trotzdem
ermüdet und langweilt sie uns? Das kommt daher, weil die Energie
dieser Leute eine ganz innerliche war, weil sie den Werth ihrer Prin-
cipien nicht durch eine offene, unbeugsame Führung ihres Lebens
documentirten, weil sie es verschmäht, sich activ zu bethätigen, und
weil dieses Verschmähen heute einer Ohnmacht gleichsieht. In diser
Welt der durchaus vornehmen Revuen, der beschränkten Oeffentlichkeit,
der isolirten Doctrinen mangelte eines, der Charakter! Und was nenne
ich mit diesem Worte, welches Sie so sehr irritirt? Die fortwährende Offen-
barung des Menschen in seinen Schriften, seine fortwährende stumme
Gegenwart in seinen Arbeiten, sein Wesen, welches im Spiel der Kunst
als Einsatz gilt. Sie sagen, dass die Betreffenden sich ohnehin in ihrer
Kunst offenbart hatten? Nein, nicht genug, sonst könnten sie nicht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 123, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0123.html)