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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 124

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124 MAUCLAIR.

athmen in der Gesellschaft, welche sie auch uns eröffnen wollen. Nein,
sie haben gezaudert, ironisirt, speculirt. Als Söhne des Kriticismus
wollten sie nicht einfach glauben. Und heute, was sehen wir bei aller
ihrer Absichtlichkeit, ihren halben Worten, ihrer skeptischen Eleganz,
mit ihrer Zurückweisung des gewöhnlichen Lebens, mit ihrem Man-
darinenthum, mit ihren diplomatischen Künsten, mit ihrer Beschränkung
auf die Elite und den Snobismus? Eine ungeheuere Prellerei, ein
Mangel an Charakterkräften, der drohende Zusammenbruch! Ja, die,
von denen ich rede, haben das Leben viel zu sehr von oben herab
angesehen, obzwar sie doch nicht die Kraft hatten, sich seinen Rei-
zungen zu verweigern. Es wird nöthig sein, dass wir aufhören, die
Gezierten zu spielen. Wir finden uns ins volle Leben nur, damit wir
unsere spitzfindigen Grübeleien über Alles und Jedes machen können.

Sie schreiben mir: »Aber welche Actionen sollen wir unter-
nehmen?« Alle, meine Herren, Alle, die sich Ihnen bieten. Wenn Sie
Charakter haben
, so bejahen Sie das bei jeder Gelegen-
heit
. Es gibt keine kleinen Anlässe auf moralischem Terrain, es gibt
keine geringen Vorkommnisse. Sicherlich würden Sie unklug sein, wenn
Sie sich im Sturm dem Apostelthum oder dem öffentlichen Tribunen-
thum in die Arme werfen würden. Aber versuchen Sie doch vorerst
eine Eroberung Ihrer selbst. Sie werden erschrecken, wie viel Sie noch
zu realisiren haben und wie sehr unsere verfeinerten Poeten in ihrer
moralischen Existenz roh und unausgebildet erscheinen. Nur allein der
moderne Mensch gibt sich niemals Rechenschaft über sich selbst, er
verhört sich selbst nicht mehr, weil er an irgendwelchen Aeusserlich-
keiten herumkritteln oder an seinen Werken klügeln muss. Wenn ich
Ihnen sage: »Vollführen Sie alle kleine Actionen, welche sich Ihnen
bieten,« so höre ich als Antwort Ihre unsichere Frage: »Was für kleine
Actionen?« Ach, die grossen Fragen erscheinen Ihnen ja nur gross,
weil sie einen sichtbaren und äusserlichen, durch die Gewalt der That-
sachen bestimmten Effect machen. Aber untersuchen Sie selbst Ihr
privates Leben, und Sie werden Gelegenheit genug finden. Es genügt,
wenn Sie sich wirklich entdecken wollen. Das Wesentliche ist: Seine
moralische Persönlichkeit als vorzüglichstes Object seiner Sorge zu be-
trachten. Die Schriftstellerei kommt erst in zweiter Linie. Was die
heutige Generation ertödtet, ist ihr inniger Rapport mit dem Buche.
Ein Buch ist nur das Zeichen eines Menschen, der sich
stetig vervollkommnen will
. Was aber soll man zu einem
Menschen sagen, der sich nur damit beschäftigt, seine Bücher zu ver-
vollkommnen? Er hält die Folge für die Ursache und bringt sich selbst
diesem Fetischdienst zum Opfer.

Es fehlt den Büchern dieser Autoren an Energie, weil sie nicht
genug privaten Charakter besitzen. Der Mangel an Charakter ist das
Kennzeichen des Symbolismus gewesen, deshalb sah er so ausgemergelt
aus und ging an sich zugrunde. Wir wissen Alle, dass er uns eine
gewisse Sensibilität gebracht hat. Aber er blieb unbeeinflussbar vom Leben.
Er hat nicht einmal die Lebensstärke einer Schule erreicht, was gewiss

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0124.html)