Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 125

Text

BETRACHTUNGEN ÜBER DIE ZIELE UNSERER ZEIT. 125

kein Zeichen einer dauernden Kraft ist. Er hat gar nicht bestanden,
denn keiner seiner Adepten vermochte durch ihn sein Wesen auszu-
drücken. Und dennoch hat man sich um dieses Nichts geschaart, nicht
einmal aus Freude an der Vereinigung, sondern aus Schlaffheit, um
die Frist zu erstrecken, um sich in der öffentlichen Meinung einen
Platz zu erobern. Der Symbolismus, diese stumme Gestalt, hat ihnen
hergehalten, um das zu sein, was man juridisch die »verantwortliche
Person« einer Gesellschaft nennt. Hören Sie einen Moment auf,
Ihren Styl zu vervollkommnen und beschäftigen Sie
sich damit
, Ihr Denken von den Clichés der Solidarität
zu befreien
. Sie werden noch immer Zeit finden, sich mit dem
Worte zu vergnügen. Nicht das Talent ist zur Stunde das Primäre.
Alles berstet vor Talent. Nöthig ist aber jetzt Charakter. Beginnen
Sie damit, freimüthig über alle Dinge herauszureden. Das ist die erste
der »kleinen Actionen«. Das ist sehr hart, Sie werden es nicht ohne
Mühe thun, aber es muss sein! Uebrigens ist es die beste moralische
Politik. Sie werden hier geborgen sein. Die Einfachheit wird Sie besser
schützen als die complicirtesten Herumredereien. Man fürchtet Jenen,
der ruhig sagt, was er denkt.

Suchen Sie um sich herum die Charaktere. Fliehen Sie alle un-
echten Solidaritäten, scheiden Sie von aller kleinlichen Gemeinsamkeit,
handeln Sie wie ein fremder Besucher. Betrachten Sie namentlich Jene,
welche Ihnen durch ihre Werke oder ihre Thaten nahegehen, suchen
Sie die Menschen unten Aelteren wie unter ihren Kameraden. Schauen
Sie jeden für sich an, und zwar stets mehr mit dem Herzen wie mit
dem Geist, denn man nähert sich einem menschlichen
Wesen nur
, wenn man es liebt. Wie viel Leute sprechen aus-
gezeichnet, auch über Moral. Sie wissen, dass man mit einer ge-
schickten Handhabung der Worte sogar die Illusion einer gewissen
inneren Noblesse erzeugen kann. Vergessen Sie alle Worte, sehen Sie
auf die Handlungen. Noch mehr: Prüfen Sie mit den Fühlern des
Herzens unter der Unvollkommenheit einer That die Intention der-
selben.

Wenn Sie diese Vorbedingungen geschaffen haben mit solchen
»kleinen Actionen«, wenn Sie sich die Beweise von Charakter nach
der moralischen Seite hin geliefert haben, so bleiben Sie an der
Grenze jeder Gesellschaft, refusiren Sie alle Abzeichen, Etiquetten,
Cliquen, Functionen. Aus diesem falschen Schein gehen Sie stets ge-
schwächt, nicht gestärkt hervor. Es gibt nur eine Gemeinsamkeit, in
welche Sie eintreten können: die der Charaktere, welche Ihnen gleichen,
wenn sie auch in ihren Berufen durchaus verschieden sind. Ich habe
vier Leute gekannt, deren Seelen aneinander hingen und die ich fast
vollständig in ihrer Uebeinstimmung mit der meinen acceptirte. Einer
war ein Schmied, der Andere ein Romancier, der Dritte ein Guts-
besitzer, der Letzte Physiker. Und ich habe mit diesen mehr Be-
rührungspunkte als mit allen Collegen meiner Generation, denen ich
in den Redactionen die Hand schüttle. Schränken Sie sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 125, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0125.html)