Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 103

Text

JORIS CARL HUYSMANS.
Von Hans Benzmann (Berlin).

In keinem anderen Lande haben sich die ästhetischen Anschauungen
in den letzten Jahren so oft geändert wie in Frankreich. Während man
noch die letzten Romane des grossen Naturalisten Zola mit Begeisterung
pries, liefen die literarischen Trabanten schon schaarenweise anderen
Wimpeln und Fahnen zu. Neue Propheten verkündeten nicht nur
scheinbar neue Theorien, sondern hatten ihre Evangelien auch schon
in literarischen Documenten, in Poesien und Romanen niedergelegt.
Präraphaeliten, Mystiker, Neuidealisten und Neuhellenisten wetteiferten
alsbald miteinander, das von Zola künstlich errichtete Gebäude der
naturalistischen Kunst zu zertrümmern. Das alte ewige Naturgesetz,
das aller Entwicklung zugrunde liegt, offenbarte auch hier wieder einmal
seine gewaltige Macht: Der literarischen Revolution, die Zola entfesselt
hatte, folgte die Reaction. In dem Kampfe gegen den radicalen Natura-
lismus waren sich alle grossen und kleinen »Neutöner« einig.

Man verlangte wieder nach einer individuellen Kunst, nach
einer Poesie der Seele und des Ueberirdischen. Zola hatte seinen
Reichthum in seiner Einseitigkeit vollständig erschöpft. Seine letzten
Romane sind Wiederholungen früherer. Seine Schüler leisteten nichts
Selbstständiges. Es waren Begabte darunter, die sich zwangen, ihren
unfehlbaren Meister nachzuahmen. Das waren die besten Beweise,
dass Zola’s Lehren doch nicht unfehlbar waren. Die Naturwissenschaft,
der Materialismus, welcher die ideelle Grundlage des literarischen
Naturalismus war, hatte mehr versprochen, als er hielt. Aufs Neue
erhob der Occultismus, der Mysticismus sein Haupt, nicht als Wissen-
schaft zunächst, sondern als ein Glaube, der nicht mehr allzu neu und
sehr verwandt mit dem katholischen Mysticismus war. Zola hatte die
Seele, den Einzelnen gänzlich vernachlässigt, er stellte einerseits die
Masse als Culturmacht hin und konnte diesen von unbewussten In-
stincten geleiteten Organismus nicht genug schildern, andererseits liess
er den Menschen gleichsam allzu sehr von der Materie abhängig sein.
Er operirte mit dem Gesetz der Vererbung, mit Kräften, die ausserhalb
der individuellen Seele, ausserhalb des eigentlich »Unbewussten« im
Wesen des Menschen ihren Herd haben. Er operirte mit Krankheiten,
die wohl im Einzelfalle Instincte und Willen beherrschen können,
niemals aber einzig und allein und in erster Linie den geschlossenen
Kreis jener dunklen Mächte und Einflüsse bilden, von denen die Seele
des Menschen abhängig ist. Wohl hat Zola ungeheure Kunstmittel,
eine neue Technik erschlossen; er selbst befand sich aber in dem
Wahn, dass er die Technik des künstlerischen Schaffens entdeckt habe.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 103, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0103.html)