Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 102

Die Suggestion bei Shakespeare (Unger, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 102

Text

102 UNGER.

Ausganges veranlassen. Edgar fühlt, dass Gloster noch schwankt,
was er von alledem denken solle. Da nimmt er denn den Wunder-
glauben jener Zeit zu Hilfe. Schon im ersten Aufzuge zeigt sich
Gloster als dem Aberglauben äusserst zugänglich, Ueberall, in der
Luft und am Himmel sieht er Vorzeichen einer unglücksschwangeren
Zeit. Darum weist er die folgende, übersinnliche Erklärung nicht von
sich, sondern hascht förmlich nach ihr, weil sie seinem eigensten Ideen-
gang entspricht.

Edgar.

Mir, der ich unten stand, erschienen seine Augen
Zwei vollen Monden gleich, und tausend Nasen,
Gewund’ne Hörner, wie die See gewellt.
Es war ein Teufel. Drum, beglückter Vater,
Denk’, dass die reinsten Götter — sich zur Ehre
Menschenunmögliches vollbringend — dich bewahrten.

Mit jenem schnellen Uebergang, der Greisen, Frauen und Kindern
eigen ist, wenn der Hang zum Wunderglauben in ihnen liegt, acceptirt
Gloster diese Schilderung als Wahrheit und zieht daraus für sich
seine — von Edgar gewünschten und vorberechneten Consequenzen.
Mit seiner Antwort:

Gloster.

Ja, ich erkenn’ es jetzt, will künftig tragen
Das Leid, bis von sich selbst es ruft:
Genug! und: Sterbe! Das Ding, wovon du sprachst,
Schien mir ein Mensch. Gar häufig riefs
Der böse Feind! Der Feind, er führt’ mich her.

Gloster glaubt also schon, dass ein Geist der Finsterniss ihn
zum Selbstmord drängte, Geister des Lichtes aber sein Leben schützten.
Diesen will er künftighin vertrauen, jene meiden. Edgar’s Zweck ist
erreicht, die Heilung von Selbstmordgedanken vermittelst einer Sug-
gestion von Anfang bis Ende in allen Einzelheiten gelungen. Mit den
Worten Edgar’s, die er an seinen, wieder mit Willen zum Leben er-
füllten Vater richtet:

Edgar.

Sei freien, geduldigen Gedankens!

schliesst die Scene, eine der schönsten und gedankentiefsten des ganzen
Stückes.1) In ihr zeigt sich, wie wunderbar Shakespeare das Ge-
heimniss der Suggestion zu einer Zeit auf die Bühne zu bringen wusste,
als es noch unerforscht in den Tiefen der geheimen, nur Wenigen zu-
gänglichen Wissenschaften schlummerte, um erst dreimal hundert Jahre
später anerkannt und im Dienste der Menschheit verwerthet zu werden.
Heute hat die Suggestion die Zweifler an ihrer Echtheit besiegt, und
es ist ein Ruhmesblatt im Dichterkranze Shakespeare’s mehr, dass
schon er, ein Kind des XVI. Jahrhunderts, sie erkannt.


1) Der Ruhm, diese Scene erfunden zu haben, wurde Shakespeare von
Johnson bestritten, der behauptet, sie sei in ihrer Gänze Sidney’s Arkadia, Buch II,
entnommen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 102, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0102.html)