Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 101
Text
Edgar vergleicht seinen Vater mit den zarten Fäden, dem
Blumenflaum und Spinngewebe, das an milden Herbstabenden die Luft
erfüllt und von dem stillen Lufthauch bald hierhin, bald dorthin ge-
tragen wird. Gleich solch gewichtlosen, luftigen Geweben ist er, ge-
tragen von den Aetherfluthen, die ein Windhauch leicht bewegt, auf
den Boden herabgesunken. Doch acceptirt Gloster nicht so ohne-
weiters diese poetische Erklärung. Er frägt:
Gloster.
Bin ich gefallen oder nicht?
Edgar.
Vom grausen Gipfel dieses Kreidefelsens.
Blick’ in die Höh’ — die laute Lerche kann so weit
Geseh’n, gehört nicht werden. Blick’ doch auf!
Edgar führt seine neugeschaffene Rolle consequent durch. Er
weiss von der Blindheit Gloster’s nichts, könnte sie auch nicht be-
merken, da dieser mit dem Gesichte nach abwärts gekehrt am Boden
liegt. Dadurch klingt seine Aufforderung: Blick’ doch auf! nicht wie
ein Hohn, sondern er erreicht im Gegentheil durch sie, dass Gloster
seinen Worten glaubt und nur sein Missgeschick, das ihm sogar den
Trost des Selbstmords raubt, beklagt.
Gloster.
Ach, ich habe keine Augen.
Ist Elend auch der Gunst beraubt,
Sich selbst durch Tod zu enden? Ein Trost war’s doch,
Als Noth Tyrannenwuth betrügen konnte,
Sein stolzes Wollen ihm vereitelnd.
Der Gedanke an den Tod ist also aufgegeben und damit die
Todesgefahr. Autosuggestion hätte ihn getödtet — Fremdsuggestion
rettet ihn.
Edgar (hilft ihm auf).
Gebt mir den Arm —
Auf — so — wie geht’s? Fühlt ihr die Beine?
Ihr steht.
Gloster.
Zu gut. Zu gut.
Edgar.
Dies ist schon mehr als seltsam.
Am Gipfel dieser Klippe trenntet Ihr
Von etwas Euch. Was war’s?
Gloster.
Ein armer, unglücklicher Bettler.
Edgar, der seinem Vater auf die Füsse hilft, frägt ihn, ob er
sich bei Kräften fühle. Zu gut (sehr)! ist seine Antwort. Dann frägt
er ihn, was das »Etwas« oben gewesen sei. Näher darf er sich nicht
ausdrücken, sonst ist der Widerspruch mit Rücksicht auf den Umstand,
dass man so hoch hinauf weder Bestimmtes sehen, noch hören könnte,
zu gross. Diese Frage soll die nachfolgende Erklärung des glücklichen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 101, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0101.html)