Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 100

Die Suggestion bei Shakespeare (Unger, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 100

Text

100 UNGER.

worauf Edgar im Selbstgespräch bedauert, dass

Edgar.

Er dies Spiel mit der Verzweiflung treibe,
Um sie zu heilen.

Wähnend, allein und verlassen, jedem menschlichen Blick ent-
rückt zu sein, schreitet Gloster an die endliche Ausführung seines
Vorhabens. Vorerst sinkt er in die Knie und betet:

Gloster.

O mächt’ge Götter!
Der Welt entsag’ ich, und vor eurem Blick
Streif ich mein grosses Leid geduldig ab.
Könnt’ ich es länger tragen, nicht eurem Willen,
Dem widerspruchslos grossen widerstreitend —
Meines verhassten Lebensfadens Docht
Verzehrt’ sich selbst. Wenn Edgar lebt, Gott segn' ihn:
Nun, Freund, lebt wohl!

(Springt empor und fällt der Länge nach zu Boden.)

So weit geht also Alles nach Wunsch. Die Suggestion hat ge-
wirkt, doch muss sie fortwirken, wenn Gloster gründlich von seinen
Selbstmordgedanken geheilt sein soll, ihre Intensität muss aber ge-
mildert werden, sonst tödtet die Macht der Einbildung den sich zer-
schmettert wähnenden Greis. Ihm wieder die Ueberzeugung des er-
folgten Sturzes zu benehmen, wäre eine Inconsequenz, deren Wirkung
verhängnissvoll werden könnte. Edgar verschwindet daher, seine Per-
sönlichkeit als simulirender Bettler-Narr tritt von der Bühne ab, er ist
zu einem unbetheiligten, zufällig des Weges kommenden Bauer umge-
wandelt, der in Sprache und Benehmen durchaus ein Anderer ist. Er
thut, als fände er Gloster am Boden liegend, sagt aber, anknüpfend
an die letzten Worte, die er dem sich zum imaginären Sturz An-
schickenden nachgerufen hat:

Edgar.

— Fort Herr? Lebt wohl!

zu sich selbst:

Edgar.

Und doch, ich weiss nicht, ob nicht Einbildung
Den Schatz des Lebens rauben kann, wenn Leben
Geraubt sein will. War’ er, wo er sich denkt,
Wär’s mit dem Denken aus.

(Nun mit veränderter Stimme laut:)

He, Herr! Freund! Hört mich, Herr! So sprecht!
So könnt’ er wirklich sterben — Doch er belebt sich.
Wer seid Ihr’ Herr?

Gloster.

Hinweg! Und lasst mich sterben.

Edgar.

Wärst du nicht spinnweb-, federleicht gewesen,
So viele Faden niederstürzend wär’st
Zerschellt gleich einem Ei; doch athmest du,
Hast Körperschwere, blutest nicht und sprichst,
Bist denn gesund. Zehn Mäste aufeinander könnten
Die Höh’, die du herabfielst nicht bezeichnen;
Dein Leben ist ein Wunder Sprich nochmal.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 100, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0100.html)