Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 99

Die Suggestion bei Shakespeare (Unger, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 99

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DIE SUGGESTION BEI SHAKESPEARE. 99

ihren Flügeln die Luft. Man weiss, dass es diese Vögel sind, die sich
nicht zu hoch emporzuwagen pflegen, aber erkennen könnte man sie
nicht, denn sie sind von da oben aus betrachtet, kaum so gross wie
Bienen. Und gleichfalls in der Mitte, zwischen Himmel und Meer, wie
am Felsen angeklammert, hängt Einer, der das halsbrecherische Ge-
werbe des Meerfenchel-Einsammelns betreibt und sich zu diesem Zwecke
am Felsen hinabgelassen hat. Seine Gestalt ist zum Umfang seines
Kopfes verkleinert. Unten am Gestade gehen Fischersleute hin und
her. In Fortsetzung der Perspective erscheinen sie dem Beschauer wie
Mäuse, das stattliche Schiff, das eben vor Anker liegt, erscheint nicht
grösser als das ihm angehängte Boot, und dieses selbst ist nur ein
Tönnchen, ein Punkt, das vom freien Auge kaum mehr ausgenommen
werden kann. Unten tost die Brandung über die Kiesel, deren zweck-
loses Daliegen Shakespeare »müssig« nennt. Kein Laut dringt so hoch
empor, geradeso wie später das schrille Getriller der Lerchen oben
nicht mehr herunterdringt. Der Ausblick ist so grossartig, so weit, das
Gefühl der umgebenden Unendlichkeit so stark, dass die ruhige Ueber-
legung, das psychische Gleichgewicht den Beschauer zu verlassen droht,
und er den Blick wegwenden muss, sonst versagen ihm seine Sinne
den Dienst, und er stürzt kopfüber hinunter.

Gloster stellt keine Frage. Nicht ein Zweifel regt sich in ihm
an der Realität des von Edgar angeblich Geschauten. Er sagt also bloss:

Gloster.

Stell’ mich, dort, wo du stehst.

Edgar erfüllt scheinbar seinen Wunsch.

Edgar.

Gebt mir die Hand. Um Fussesbreite seid
Ihr jetzt vom Rand entfernt. Um Alles unter’m Mond
Möcht’ ich nicht aufwärts springen.

Damit weiss Gloster genug. Er glaubt sich hart am Rande
des Abgrundes, nimmt an, dass er nur einen Sprung in die Höhe zu
machen braucht, um in die Tiefe zu stürzen. Niemand hindert ihn, der
Bettler-Narr, für den er Edgar hält, ist leicht davonzuschaffen. Er thut
dies letztere sogleich.

Gloster.

Lass meine Hand —
Hier, Freund, ist in der Börse ein Juwel,
Des Nehmens werth dem Armen; Feen und Götter
Gesegnen dir’s! Geh’ deines Weg’s,
Sag’ mir Lebwohl, lass mich dein Fortgeh’n hören.

Edgar.

Lebt wohl, mein guter Herr!

(Er thut, als ob er ginge.)

Indem er absichtlich erst lautere, danun allmälig sich verlierende
Schritte macht, erweckt Edgar bei Gloster die Gewissheit, dass er
wirklich abseits gehe. Noch schickt ihm dieser die Erwiderung des
Grusses nach:

Gloster.

— — Von ganzem Herzen! (Dank’ ich dir.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 99, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0099.html)