Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 98

Die Suggestion bei Shakespeare (Unger, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 98

Text

98 UNGER.

Edgar.

Ihr täuscht Euch sehr; in nichts bin ich verändert
Als in den Kleidern.

Dies bezieht sich auf die Kleider, die ein ehemaliger Pächter
Gloster’s dem »Narren« gespendet hatte. Jener ist noch nicht ganz
befriedigt, er sagt:

Gloster.

Mich dünkt, als sprächst du besser.

Edgar nimmt diesen Einwand nicht mehr auf. Schon entsteht
in seiner Phantasie die Vorstellung von der Scenerie, die sich unter
ihm entfalten müsste, wenn er wirklich dort stünde, wo er seiner Be-
hauptung nach jetzt sein müsste — am äussersten Rande des Kreide-
felsens. Es entsteht eine Reihenfolge von Hallucinationen in ihm, ähnlich
der Bilderreihe eines Traumes, Vorstellungen, die er durch lautes,
eindringliches Reden auf Gloster überträgt. Er macht es wie ein
Hypnotiseur, der die von ihm in Schlaf versetzte Person in imaginäre
Zustände und Umgebungen taucht, indem er durch die Schilderung
derselben, die Vorstellung von ihrem realen Vorhandensein im Perci-
pienten erweckt. Hier wie dort ist das eigentliche Sehen ausgeschlossen,
und es findet ein inneres Schauen statt, dem gar kein sinnenfälliges
Object entspricht. Das ist die Suggestion. Wie anschaulich, wie farben-
prächtig und lebenswahr in allen Einzelheiten ist das Bild, das Edgar
in seiner Phantasie entwirft, hoffend, dass es sich auf seinen blinden
Vater übertrage! Und es geschieht. Der arme Greis hört schweigend
zu, er zweifelt keinen Augenblick daran, dass das Bild, das noch dazu
ein Narr entwirft (als solcher muss ihm ja Edgar noch immer gelten),
mit der Wirklichkeit identisch sei. Sehen wir selbst:

Edgar.

Kommt Herr — hier ist der Ort — steht still —
Wie grauenvoll
Und schwind’lig ist’s, so tief hinabzublicken.
Die Kräh’n und Dohlen, die die Mitt’ umflattern,
Sind kaum wie Bienen gross; auf halbem Weg’
Hängt Einer, Fenchel sammelnd — schrecklich’ Handwerk!
Mich dünkt, nicht grösser scheint er als sein Kopf.
Die Fischer, die am Seegestade wandeln
Sind Mäusen gleich, ein ankernd’ stattlich Schiff
Zu seinem Boot verkleinert, dies ein Tönnchen.
Beinah’ zu klein dem Blick. Die laute Brandung,
Die auf der Unzahl müss’ger Kiesel tost.
Ist nicht herauf vernehmbar. Ich schau’ nicht mehr,
Sonst schwindelt mich, und, meine Sehkraft schwindend,
Reisst’s mich hinab.

Wie schön ist dieses Bild! Wie ist es dazu angethan, als Fremd-
suggestion zu wirken!

Hoch oben stehen sie, es ist einsam und unheimlich still. In
ungemessenen Fernen verliert sich der Blick, in Tiefen, die das Gefühl
des Schwindels erzeugen. In der Mitte des Abgrundes, der sich zu
den Fassen des Beschauers aufthut, schlagen Krähen und Dohlen mit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 98, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0098.html)