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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 104

Text

104 BENZMANN.

Trat er doch sogar mit seiner Doctrin als Präceptor der Jugend
öffentlich auf! Das Alles rüttelte die Geister gegen ihn auf. Der
Individualismus, der einer eigenartigen Ausbildung und aus-
schliesslichen Darstellung des Persönlichen zustrebte, fand in Maurice
Barrés
seinen bedeutendsten und rücksichtslosesten Vertreter. Dieser
schrieb Broschüren und Romane (u. A. »L’ennemi des Lois«), in denen
er die Gesetze des »Ich« gegenüber den Gesetzen der Allgemeinheit
vertheidigte und sich selbst unerhörte Loblieder sang. Als Meister
jedoch der wirklichen Seelenanalyse ist der geniale Bourget zu be-
zeichnen. Im Grunde Skeptiker, wie alle diese Gegner des Materialismus,
und jenseits von »Gut und Böse« stehend, findet er seine ästhetische
Befriedigung mehr in einer passiven Lebensbeobachtung und in dem
Studium der Seele als in energischer Willens- und Wesensbethätigung
und in einer positiven Weltanschauung. Und doch beherrscht ihn trotz
dieser decadenten Empfindungsweise durchaus eine tiefe Sehnsucht nach
Lauterkeit und Seelengrösse. Er weist gern auf das Heilige, das Un-
befleckte, auf jenes moralische Gefühl des Menschen hin, das er zum
Theil der religiösen Empfindung und dem religiösen Sinn seiner Ahnen
verdankt. So ist Bourget wohl einer der lichtvollsten und freundlichsten
Charaktere des jüngeren Frankreich. Fähige Köpfe entwickelten nun
nach verschiedenen Richtungen hin die neuen ästhetischen Theorien
der Seelenkunst. Mystiker erstanden, welche dem Uebersinnlichen
in ihrer Seele und im Weltall Altäre erbauten und das Unbegreifliche
zu symbolisiren suchten. Paul Verlaine, einer der bedeutendsten
Lyriker, die je gelebt, opferte gern an diesen Altären. Da die Wissen-
schaft wieder einmal vor Räthseln stand, suchte man sein Heil im
Glauben. Der Neokatholicismus schuf eine neue Mitleidslehre,
die theils auf pantheistisch-socialen Ideen, theils auf dem Evangelium
der Nächstenliebe basirt. Der Hauptvertreter dieser resignirenden
Idealisten ist Lemaître, der den Satz aussprach: »Heureux qui sur
le mal se penche et souffre et pleure, car la pitié refleurit en vertu.«

So mannigfaltig sich die jüngste französische Literatur auch ent-
wickelt hat, eine universale Persönlichkeit mit positiver selbstständiger,
fruchtbarer Weltanschauung ging bisher nicht aus ihr hervor. Alle
jüngsten Bestrebungen tragen vielmehr in ihrer Passivität die Symptome
einer Uebercultur, eines culturellen Verfalles an sich. Die reiche Poesie
einer Decadence blüht in Frankreich. Der letzte Vertreter einer
Weltanschauung war eben Zola, in dessen Romanen der darwinisti-
schen Botschaft vom »Kampf ums Dasein« Hekatomben geopfert werden.

Als Decadent ist auch Joris Carl Huysmans, dessen Roman
»A rebours«, von Capsius übersetzt, soeben im Verlage von Schuster
& Loeffler, Berlin, erschienen ist, in erster Linie aufzufassen. Die ganze,
eben geschilderte Entwicklung hat auch er durchgemacht. Aus dem
Zolaisten ist ein impressionistischer Stylist und ein Mystiker geworden.
Seine letzten selbstständigen Romane schildern alle die Irrfahrten ab-
trünniger Seelen, die schliesslich am Gestade des Glaubens doch
wiederum — stranden. Aber für die Beurtheilung dieses Künstlers ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 104, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0104.html)