Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 105

Text

JORIS CARL HUYSMANS. 105

dieser ideelle Inhalt seiner Romane, die so viele eigene Erlebnisse und
Empfindungen des Verfassers wiederzuspiegeln scheinen, nicht die
Hauptsache. Man könnte sonst leicht dazu kommen, dem feinsinnigen
Künstler eine extreme Weltanschauung oder überhaupt eine Welt-
anschauung anzudichten, die ihm durchaus fern liegt. Trotzdem sich
nämlich Huysmans vielfach mit naiver Freude der Schilderung jener
altruistischen Glaubenssehnsucht hingibt, lächelt hinter diesen Sensationen
doch immer eine ganz leise Ironie, ein feiner Humor. Hat auch ihn
wirklich die Sehnsucht in den alten prachtvollen Dom der katholischen
Kirche zurückgetrieben? Oder erbaute er dieses feierliche Gebäude nur
von Neuem, um es zu schmücken mit den köstlichen Einfällen seiner
Phantasie? Wir bekommen es nicht heraus. Diese Züge sind ganz
charakteristische für den Decadent, sie machen die Werke Huysmans’,
dieses Phantasten und Sprachvirtuosen, noch interessanter. Ich muss
gestehen, dass mich die Phantasie in »A rebours« hier angewidert, dort
bezaubert und entzückt hat.

Eigentliche Handlung ist in »A rebours« wie in allen Romanen
Huysmans’ kaum vorhanden. Der Dichter schildert einen Decadent,
einen verlebten und übersensitiv empfindenden Neurastheniker, der all-
mälig dem Marasmus verfällt, aber seine dem Tode zusinkende Seele
durch allerlei künstlerische und sensationelle Genüsse immer wieder
zu einem neuen Scheinleben zurückruft. Der Herzog des Esseintes mag
keine Menschen, nichts Alltägliches, überhaupt nichts mehr sehen, was
mit der Welt Berührung hatte. Nach eigenem Plane baut er sich un-
weit Paris in einsamer Gegend ein Landhaus, das er auf das Raffinirteste
ausstattet. Hier lebt er seinen Sensationen und Illusionen. So hat er
ein Zimmer wie eine Klosterzelle eingerichtet, das andere wie eine
Schiffscajüte. Letzteres hatte ein Fenster, das zugesetzt war durch ein
grosses Aquarium. Durch das Wasser drang das Tageslicht in die
Cajüte. »Indem der Herzog einige Tropfen farbiger Essenz hineinthat,
erzeugte er grünliche und gelbliche, milchweisse oder silberne Fär-
bungen, wie die natürlichen Gewässer je nach der Farbe des Himmels,
der mehr oder minder starken Gluth der Sonne oder des nahenden
Regens erscheinen. Er bildete sich dann ein, in dem Zwischendeck
einer Brigg zu sein; und neugierig betrachtete er wunderbar gearbeitete
Fische, die, aufgezogen durch ein Uhrwerk, vor der Scheibe des runden
Cajütenfensters vorbeischwammen und in dem künstlichen Gras hängen
blieben. Oder er betrachtete, während er den Theergeruch einsog, mit
dem man den Raum besprengt hatte, bevor er ihn betrat, die an den
Wänden aufgehängten farbigen Stiche, welche — wie in den Agenturen
der Schifffahrtsgesellschaften — Dampfschiffe auf dem Wege nach
Valparaiso oder La Plata vorstellten.« Wie man sieht, stellt hier Huys-
mans den wahren Typus eines spleenigen Decadent dar. Solche Ab-
wechslungen genoss der Herzog des Esseintes in vollen Zügen. Be-
wegung schien ihm überflüssig, da ihm die Einbildung leicht die gewohnte
Wirklichkeit des Lebens zu ersetzen vermochte. Eine unerschöpfliche
Phantasie offenbart hier der Dichter. Seitenlang schwelgt er in dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 105, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0105.html)