Text
Vor einem kleinen, reizenden Krystallspiegel bindet sie den
Schleier und zerstört die feinen, goldbraunen Löckchen, die sich im
Nacken kräuseln. Da spricht sie zurück, stockend, hastig, ein wenig
hochmüthig: »Vergessen Sie diese ganze Comödie, ich habe kommen
müssen, jetzt muss ich gehen. Jetzt scheint schon die Sonne, Herr
Redacteur.« Sie macht ihm einen kleinen Schulmädelknicks. Jetzt wird
er ganz Geschäftsmann, blättert in dem Manuscripte. »Also die ersten
Zeilen darf ich streichen? Gut. Und in der nächsten Nummer bringe
ich die Arbeit.«
Sie macht furchtsame Augen, legt ihre Hand auf die Blätter.
»Nein, bitte nein, thun Sie das nicht, jetzt will ich nicht, jetzt kann
ich nicht. Nie soll das gedruckt werden. Zimmerluft hängt daran, bloss
dummes Wissenwollen.« Ganz leise: »Wenn ich es auch früher wollte,
bitte nein.»
Er zuckt die Achseln, rollt die Blätter zusammen, reicht sie hin,
sagt frostig: »Nach Ihrem Belieben, gnädigstes Fräulein.«
Ihre Hand liegt in der seinen, seine kräftigen, warmen Finger
eng um ihre flatternde Hand. »Leben sollt’ ich, leben dürfen — dann
ja — Freiheit und Leben — wie herrlich. —« Und ihre Sehnsuchts-
augen in den seinen — ein Zittern fliegt durch seine Arme.
Bleib’ da! möcht’ er schreien, laut, laut, dass es die Thore
ihrer Seele zersprengt.
Er antwortet fein und höflich: »Auf Wiedersehen, gnädigstes
Fräulein, kommen Sie bald, bald wieder.« Begleitet sie bis zur Thüre,
bleibt stehen, bis ihr Kleid im Stiegengang verschwindet, und auch
dann noch starrt er unbeweglich minutenlang in die graue Mauer.
Doch in den tiefsten Tiefen ihrer Seele, da, wo sie sich selbst
nicht kennen, suchen sie sich, haschen sie sich, wollen sich ertrotzen,
erzwingen — er sie — in seiner klanggleichen Halbweltweise — sie
ihn — mit tiefem, blutigem Drängen — beide mit ungestümem Muss.
Quälen sich — verzweifeln.
Er küsst eine Dirne — sie wird Braut. Auf der Strasse aneinander
vorbei, sie lächelt madonnenhaft, er grüsst höflich, nebenbei.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 90, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0090.html)