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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 92

Text

92 GROSSMANN.

achten, wie Einer nach dem Andern Tag für Tag den gleichen Weg
durch diese internationalen Celebritäten von Paris geht, wie sie sich
von Stunde zu Stunde stärker aufblähen als Kenner der grossen Stadt
und im Grunde doch stets nur den Schicksalsweg des Pariser Fremden
gegangen sind und von dem grossen Organismus Paris gar keine
Ahnung haben.

Es gibt keine unglücklichere Vorbedingung zum Besuche von
Paris als eine gefüllte Brieftasche. Das bedeutet: Fremdenhôtel, Fremden-
führer, Baedeker, kurz: den Schicksalsweg des Pariser Fremden. Komm
als armer Teufel nach Paris! Wohne nicht in den grossen Hôtels des
Boulevards! Suche dir selbst deine Wohnung, wandere durch dieses alte,
ehrwürdige Paris der Faubourgs, nicht durch die lackirte Eleganz der
City! Geh nach Belleville! Schaudre über diesen entsetzlichen, alten,
morschen Baracken, in denen der grösste Theil des Pariser Volkes
lebt, diese grässlichen, finsteren, säuerlich riechenden Häuser mit engen
Holzwendeltreppen! Bewundere nicht Fräulein Fougère oder Réjane,
welche du morgen oder übermorgen auch in Wien und Berlin wirst
sehen können. Geh lieber in irgend ein verstecktes Theater von
Batignolles, wo irgend eine chauvinistische Declamationskomödie von
Deroulède beklatscht wird. Und wie beklatscht wird! Und von wem
beklatscht wird? Von einem Publicum, das noch in Werkstättenkleidung
steckt, aber es sich nicht nehmen liess, rasch nach dem Diner, mit
der geliebten Ergänzung am Arm, ins Theater zu rennen.

Geh, um Gotteswillen, in kein Restaurant am grossen Boulevard,
wo du Münchener Bier und Wiener Schnitzel bekommen könntest!
Komm in irgend ein »Bouillon«, lass dir die Karte geben und wähle
die Speise, auch wenn du nicht ahnst, was du dir erwählst! Mach’
dich nicht lächerlich, indem du — ich habe solche Scenen selbst ge-
sehen — den Dictionnaire aus der Tasche ziehst und suchst.

Freilich, wenn Einer Paris gründlich kennen will, so ist wenig
Geld oft schon zu viel. Wie unvergesslich wird mir eine Nacht sein,
die ich voriges Jahr am Boulevard de la Villette zugebracht habe. Es
war eine der kältesten Nächte, die ich jemals in Paris erlebte. Nach
zwei Uhr Nachts wurde es sehr stille auf dem Boulevard de la Villette.
Wie ich so durch die kalte Nacht daherging, habe ich mich gefragt,
wo denn die vielen armseligen Kerle heute Nacht sein mögen, welche
sonst, in wärmeren Nächten, auf den Bänken des Boulevards zu über-
nachten pflegen? Mit einemmale stand ich vor der Antwort: Ein
weites Zelt von vielleicht 200 Meter war mitten auf der Strasse er-
richtet. Zwei spärliche Lampen brannten drin, und auf kalten Pritschen
lagen die ärmsten Leute von Paris. Ein Ofen sollte es den Schlafenden
etwas wärmer machen, aber nur die Glücklichen, welche neben dem
Ofen lagen, spürten etwas von seiner Existenz. Uebrigens, kann man
von Schlafenden reden? Von Viertelstunde zu Viertelstunde kamen
zwei Polizisten, Sergeants de la paix, zur Visite. War Einer der
Liegenden glücklich eingeschlafen, so packte ihn plötzlich ein Sergeant
am Kragen: »He, Ihre Papiere?« Hier holt sich die Polizei allnächtlich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 92, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0092.html)