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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 93

Text

MONTMARTRE. 93

ihre Beute. Deshalb sind diese Zelte auch nur in sehr kalten Nächten gut
besucht. Die Pariser Polizei ist ziemlich derb. Die Polizisten heissen
zwar Sergeants de la paix, aber man weicht diesen Friedensfreunden
lieber aus

II.

Damit bin ich nun mit einemmale auf die eigentlichen Stoffe
der Pariser Kunst von heute gekommen. Natürlich, in der Comédie
française oder im Vaudeville hört man von diesen Dingen sehr wenig.
Da werden die alten juridisch-ethischen Spitzfindigkeiten in immer
neuen Discussionsdramen erläutert. Darf der Mann seiner treulosen
Gattin verzeihen? Gibt es ein loi de l’homme? Soll die Frau Gleiches
mit Gleichem vergelten? Vermuthlich wird man noch in zwanzig Jahren
über diese Probleme, welche Jeder nur aus seinen Instincten beant-
worten kann, mehr oder minder geistreiche Dramen schreiben. Nur ist
es schon heute eine Thatsache, dass die Leute alle Freude am Theater
verlieren. Indess wird da droben, auf Montmartre, jeden Abend ein
neues Cabaret geöffnet. Und was geschieht drin? Beinahe nichts. Ein
Herr sitzt am Clavier und ein anderer singt dazu, oder es ist gar
kein Clavier und gar kein Podium vorhanden, ein Mann steht mit ge-
spreizten Beinen auf zwei Sesseln und singt. Da sitzen in einem kleinen
Zimmer hundert Leute, jeder trinkt sein »Bock« und horcht auf.
Morgen wird das Lied auf der Strasse gesungen, und übermorgen
singen es die Kinder.

Ganz unbeachtet ist da etwas entstanden, was die Literaten in
ihrer geschraubten Unnatürlichkeit bisher nur als komischen Homun-
culus erschaffen konnten: das neue Volkslied. Was Aristide Bruant,
Xanrof Jehan Rictus und mancher Andere in diesen rauchigen Cabarets
vor einer Menge sehr uneleganter Leute singen, das ist gewiss nicht
im akademischen Sinne: das Volkslied. Es gibt in Frankreich so gut
wie in Deutschland vermoderte Bonzen, welche meinen, nur das »Ich
ging im Wald so für mich hin« und überhaupt die banale Harmlosig-
keit mache das Volkslied aus. Was liegt daran? Die Lieder der Bruant
und Rictus, diese ungehobelten Strophen im ärgsten Argot, werden in
den Proletariervierteln ebenso gesungen wie unter den jungen Künstlern.
Es ist sehr bedeutsam, dass fast alle diese Poeten seinerzeit in den
berühmten Anarchistenprocess »Procès de trente« verwickelt waren.
Ihre Lieder sind wahrhaftig keine banalen Harmlosigkeiten. Aber keiner,
der z. B. Jehan Rictus im Cabaret des quatr’ arts gehört hat, wird
ihn so schnell aus dem Gedächtniss verlieren.1) Da stand ein langer,
hagerer Mensch, blass, mit einem schwarzen Christusbart. Er sang einen
Monolog. Ein armer Teufel hat Hunger, ein armer Teufel ist voll


1) Seine Chansons sind inzwischen unter dem Titel: »Soliloques du Pauvre«
im Verlage des Mercure de France (1897) erschienen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 93, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0093.html)