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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 80

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80 NOTIZEN.

ihrer Ausdrucksmittel zur Auf-
erstehung, wenn auch in neuer Form,
zu bringen. So Klinger, Böcklin
und Stuck. Sie gaben ihrer kalten,
für unsere Sinne erstorbenen Form
die Seele der Romantik, die wieder
an dem Mangel des sinnlich-kör-
perlichen Elementes dahingesiecht
war. Von Klinger und Böcklin
hat Stuck gelernt, aber er zeigt,
dass man sich seiner Vorbilder
nicht zu schämen braucht, wenn
man ihrer ungeachtet ein eigenes
Gesicht zu zeigen vermag. Der
heidnisch- sinnlichen Naturempfin-
dung Böcklin’s paart sich bei
Stuck ein satanisch- faunisches
Element, das ihm eine starke
eigene Note gibt. Ein wunder-
barer Zeichner von tiefstem Natur-
studium, ist er als Colorist ebenso
zu Rembrandt und Rubens in die
Schule gegangen wie zu den
Evangelisten der neuen Farben-
gebung. Gleich Böcklin hob auch
er die Antike über die kühle
ästhetische Schönheit zur freieren
germanisch-sinnlichen Wärme des
Ausdrucks empor. Aber die Art,
wie sie sich seiner Künstlerseele
losringt, trägt seinen Stempel. So
blicken seine Gestalten gleichsam
mit seinem Auge, diesem dunklen,
bohrenden Auge mit seinem halb
mystisch, halb dämonisch be-
strickenden Zauber. Auch seine
Porträts verleugnen denselben nicht.

Er ist ein Symbolist des Sinn-
lichen, und in mehr unheimlicher
als heiterer Schönheit leuchten
seine nackten Frauenleiber — wie
die Gestalt der »Eva« in ihren
fleischlich-satten Formen im »Ver-
lorenen Paradies« — aus seinen
dunklen Farbenorgien hervor.

Und welche Bewegung geht
durch die jauchzend anstürmende
Gruppe im »Bacchantenzug«. Das
ist mehr als Leben! Es ist ein
übersinnlicher Sinnenzauber, eine
Orgiastik von wunderbarer Kraft-
fülle. Dieser Stärke des Ausdruckes
gegenüber gleichen die schwachen
Nachahmungsversuche einiger junger
»Stuck«-Bewunderer athletischen
Schauübungen mit — hohlen Ge-
wichten und Hanteln. Stuck ist
unzweifelhaft ein Künstler von
grossem Können und bedeutender
Ursprünglichkeit, und wir müssen
dem liebenswürdigen Hausherrn
danken, in dessen Salon wir die
Freude hatten, ihn anzutreffen.
Dem gegenüber muthen die Bilder
bei den Jahresausstellungen im
Künstlerhause an, wie das Publi-
cum bei gewissen Wohlthätigkeits-
akademien im Musikvereinssaal.
Unter beiden findet man stets die
gleichen, guten, alten, aber uninter-
essanten Stammgäste, die immer
dabei sein müssen und meist die
besten Plätze occupiren.

Paul Wilhelm .



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 80, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0080.html)