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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 56

Text

ZU HEINRICH HEINE’S HUNDERTJÄHRIGEM
GEBURTSTAGE.1)
(13. December 1797.)
Von Richard Schaukal .

Nennt man die besten Namen,
So wird auch der meine genannt.

(Lieder der »Heimkehr«.)

Man kehrt so gerne zurück! Das Vorwärtsdringen bringt den
Athemlosen in fremde Umgebungen. Aber glücklich — erschreckt
wendet er sich um, wenn ihn die Vergangenheit rief. Und es ist
Einem so öde, so verlassen zu Muth, wenn hinter den allzu rüstigen
Schultern die Zweige wieder zusammenschlagen. Sie schliessen das
Gestern ab. Sie zittern über den hastigen Schritt und schweigen
wieder. Und unselig der, dem nicht die Thautropfen vom Rosengarten
der Kindheit an den wachen Wimpern hängen. In knabenhaftem Trotze
verliess man ihn. Das zärtliche Herz schlug ängstlich. Aber man hiess
es schweigen. Und nur leise schluchzend verstummte es. So gingen
wir mit den heftigen Tritten der innerlich Unüberzeugten aus dem
Frieden der Rosenhecken. Und wir wollten der hohen, hellen Sonne,
die über dem weithin geschlängelten Pfade wachte, ein lautes Will-
kommen rufen. Aber es blieb uns in der Kehle stecken. Da fassten
wir den Landstreicher unter den Arm und zwangen ihn zur Freude,
die uns fehlte. Und mit rohen Spässen überwanden wir unsere Sehn-
sucht, die uns unmännlich schien, uns umzusehen. So traten wir ins
Leben, in die Wagnisse.

So ist ein junger Dichter einst ins Leben getaumelt, verweint,
verbittert und voll Drang, seine Kräfte zu messen. Und trotzig-stolz
lief er ins Land der Reue

Man kehrt so gerne zurück! Flehende Hände ringen nach dem
Verlorenen, dem unwiederbringlich Verwirkten. Das ist die Tragödie
der Jugend: die Tragödie Heinrich Heine’s.

Der Düsseldorfer Jude, dem eine besorgte Mutter das Höchste
gönnte, der etwas Besseres werden, herausspringen sollte aus ent-
würdigenden Schranken, musste an seinem ewigen Jünglingsthume zu-
grunde gehen Ich will die Geschichte dieses Unterganges ent-
werfen als Einer, der sich schuldig fühlt vor einem arg und ungerecht
Verlästerten, als Einer, der einmal wie durch ein Wunder zurückkehrte
zu einem unmässig gescholtenen Liebling, als Einer, der freudig und
dankbar abbittet einem rührenden Menschen.


1) Bei Fischer & Franke, Berlin, erscheint gleichzeitig von mir ein Heine-
Breviarium: »Heinrich Heine. Sein Leben in seinen Versen.« R. Sch.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 56, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0056.html)