Text
Man hat Heine immer sehr falsch beurtheilt. Man hat ihn ab-
gethan mit ererbter Bewunderung. Man hat ihn gelästert von schlimmen
Voraussetzungen aus. Aber man hat sich selten die Mühe genommen,
ihn kennen zu lernen und aufzufassen. Und er bietet doch so auf-
richtige Hände dar.
Er war ein begabter, getretener, ewig hoffender Mensch, der be-
gnadet war, zu singen. Das ist Alles. Es ist fast unbegreiflich, wie man
ihn verkennen konnte. Wie man an ihn mit beschwörenden und ent-
rüsteten Forderungen trat. Wie man die Hände entsetzt und empört
rang über einen allzu offenen Jüngling. Man hätte ihn als deutschen
Patrioten begehrt, ihn, der im Rheinlande unter den gewinnenden
Franzosen ein Knabe war. Man hätte ihn als Christen gewünscht, ihn,
das Kind der Revolution, den überlegenden, getäuschten, misstrauischen
Juden. Es ist seltsam, was die Menschen immer von Einem wollen,
der nicht unhörbar über ihre öden Marktplätze geht.
Es fällt ihnen selten ein, dass der andere Mensch ein Wesen
ist, das seinem Schicksal entgegenlebt, dass er nicht aus seiner Natur
kann. Dass es schön ist, wenn ein Mensch, ringend mit den Geboten
seines Ich, dieses Ich in aussichtslosem Kampfe bejaht. Weil die Leute
immer in erborgten Gewändern wandern, weil sie sich immer Vorur-
theile aus den verstaubten Garderoben ihrer Nachbarn um die Stirne
winden, weil sie immer auf unbegriffenen Worten wie auf schwankenden
Stelzen stolpern, ereifern sie sich so unangenehm über die arglosen
Knechte der Lebenstage. Und einen Dichter, der schreit, wenn man
ihn schlägt, der weint, wenn ihm das Herz weh thut, und behaglich
lärmt, wenn ihm wohl ist, verübeln sie die Laute seiner Stimmungen.
Undankbar aber ist ihr Jammern und Schelten. Sie vergessen, dass
ihnen warm ward bei der Freude des Dichters, dass ihnen kaltes,
mitleidiges Frösteln über den Rücken lief bei seinen perlenden Thränen,
dass ihre Stirnadern schwollen bei seinem Unwillen, dass er sie mit
der Macht seiner Aeusserungen über das Leben wohlthätig emporriss
aus ihrem erbärmlichen Trotten.
Und wenn wir Dichter dieser Uebergangszeiten uns stolz und
wie verächtlich in die königlichen Falten unserer geliebten Rhythmen
hüllen, wenn wir uns mit abweisenden Handflächen von der Menge
wenden, die so undankbar ist und unliebenswürdig, ist es nicht eine
stumme und erhabene Rache an den unwilligen Ohren, in denen allzu
tosend das Lärmen des Alltäglichen braust, an den unehrerbietigen
und schmutzigen Händen, die unsere edlen und glaubenerfüllten Be-
strebungen mit dem Staube ihrer Heerdenstrassen besudeln?
Heinrich Heine, der zu den Franzosen floh vor der Elendigkeit
seines verschlafenen Vaterlandes, der in jugendlicher Hoffensfreudigkeit
von den unerhörten Willensthaten dieser wachen Nation »das Wunder-
bare« erwartete, war ein noch unbekehrter Idealist und ein um das Sehen
seiner verlangenden Augen laut und fordernd bemühter Neuzeitmensch.
Er kam von der deutschen Romantik her, eine unerwiderte grosse
Liebe in seinem brennenden Jünglingsherzen, in seinem viel zu schläfrig
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 57, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0057.html)