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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 58

Text

58 SCHAUKAL.

und viel zu behaglich gewordenen Deutschland ein unbrauchbares Mit-
glied, dem aufgedrungenen Geschäftsleben, dem ohne Verständniss und
wie in eines Schiffbrüchigen Verzweiflung angefassten Rechtsstudium
mit dem »Endlich« eines unruhigen Kopfes entronnen, mit Kinder-
enthusiasmus für ein aufrecht schreitendes Volk, voll gerne gelabter
Eitelkeit, ein Hungriger, der verschlingen will.

Und nun muss ich wieder mit einem eingerosteten Irrthum ringen,
der den Pariser Heine verfolgt wie eine zudringliche hässliche Maske:
Er wurde in Frankreich durchaus kein Franzose. Er lebte als ein Ver-
bannter, als ein recht einsamer trauriger Fremdling in diesem hellen,
hastigen Paris, als ein ewig Sehnsüchtiger, der mit dem ätzenden Hohne
der Ausgeschlossenen, mit dem Ingrimme derjenigen, die nicht mitthun
dürfen, aufmerksam, erregt und — enttäuscht dem Pulsschlag seiner
Heimat lauschte, als der ewige Jüngling, der nicht lernen kann, einzu-
sehen und zu verzichten, als ein Unfertiger, der an seinem über-
wuchernden Reichthum zu ersticken fürchtet, als ein deutscher Lieder-
sänger, dem die deutschen Lieder fehlen und die deutsche Hausfrau.
Dieses rührende, in tollen Betäubungen mit grausamem Selbsthohn
langsam zerfleischte, unversöhnte, unbefriedigte, endlich an ein dummes,
fettes Weib verworfene, verzweifelt gegen das entsetzliche Sterben ver-
theidigte Leben mag man in dem fleissigen, braven Buche eines ehr-
fürchtigen Franzosen nachlesen,1) der auch mit sorgfältigen kritischen
Fingern das reiche, bunte Werk dieses traurigen Bajazzos sondert und
ordnet. Hier und in Strodtmann’s schwerfälliger, umfangreicher
Biographie wird auch der Irrthum zerstört, dass man es mit einem
sorglos tändelnden Verseschreiber zu thun habe. Heine’s unzufriedene,
rastlos bessernde, planvolle Arbeit, sein unermüdliches Feilen und ab-
wägendes, ängstliches Aendern kann dem Neugierigen klar werden.
Es ist nicht meine Aufgabe, dem gerne vergesslichen »deutschen Volke«
seinen zweitgrössten Lyriker zu zeigen. Aber ich hielt es bei den
neuerlich vernehmlich gewordenen, missmuthig und grämlich krittelnden
Stimmen für ganz angemessen, etwas dem künstlerisch Geniessenden
Selbstverständliches hier mit einigen wie um Vergebung für diese
Trivialität bittenden Worten beiläufig auszusprechen.

Und noch einmal will ich zu diesem hundertsten Geburtstage die
Stimme heben und rufen: Messt einen Dichter an seinem Schaffen
und nicht an seinem »Charakter«! Es wird Niemand behaupten wollen,
dieser deutsche Romantiker, dieser traurige Schwärmer, dieser bitter-
witzige Jude, dieser sinnliche, blutdurchwogte Jüngling sei eine grosse
Natur gewesen. Das kann uns auch recht gleichgiltig sein. Wir dürfen
ihn aber einen wahren Menschen und einen begnadeten Dichter nennen.
Und Beides war unserem Glücke ein Gewinn. Er lebte sich selbst und
sang aus seinem Leben heraus. Und uns hinterliess er die Freude
seiner lebendigen Lieder.


1) Henri Heine, poète, par Jules Legras. Paris, C. Lévy, 1897.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 58, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0058.html)