Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 59
Text
Zeitschrift für angewandte Kunst. Herausgegeben von H. Bruckmann in München
und J. Meier-Graefe in Paris.
Von Elsa Prinzessin Cantacuzène (München).
Wie Dem im Märchen, der in ahnungsloser Alltäglichkeit seinen
Acker pflügte und plötzlich auf wahrhaftiges Gold stiess, das wohl vor
geraumer Zeit ein Früherer dort vergraben — so finden wir zuweilen
ungesucht, in einem Buche blätternd, ein goldleuchtend Wort. Ein
Früherer hat es gesprochen, und sein Glanz blieb in den Blättern ver-
graben, bis einmal ein glücklicher Zufall sie umlegte: gerade an dieser
Stelle. Und geschieht dies zur rechten Stunde, dann erwacht das
schlummernde Wort, und wundersam lebendig erschliesst sich uns, was
es barg. Und wir wundern uns, dass wir nicht selbst schon die klare,
einfache Formel gefunden, wie sie ein Seher kündend einer kommenden
Zeit gesprochen.
»Form ist Ausdruck der Notwendigkeit.« »Stoff ist Aufgabe —
Form ist Lösung.« Vor vierzig Jahren schrieb Friedrich Hebbel die
Worte in sein Tagebuch. Und klingen sie nicht, als habe er sie just
für uns geschrieben? Klingen sie nicht wie der Zauberspruch, der in
seiner wunderbar klaren, erschöpfenden Prägnanz unserer modernen
Kunst — der ewig Sehnenden, der unruhig Suchenden — den Weg
zu weisen vermag? Sind sie nicht die Essenz dessen, was die Ver-
ständigsten, Feinsinnigsten im Dienste moderner Kunstentwicklung heute
schreiben?
So könnten sie wohl das Motto bilden zu der neuen Bruck-
mann’schen Zeitschrift »Decorative Kunst«. Und stehen sie auch nicht
darauf geschrieben: ihr Geist weht durch alle Seiten dieses ersten
Heftes. Er weht zwischen den Zeilen des Textes und thut sich kund
als ein guter und kraftvoller, als ein ziel- und bodensicherer Führer.
Die Herausgeber hätten keinen Besseren sich wählen können, um
richtig zu steuern unbeirrt hindurch durch die wirbelnden Wogen und
vielgewundenen Strömungen unseres heutigen Kunststrebens. Dass aber
der Geist, für den »die Form der Ausdruck der Nothwendigkeit«, für
den sie einfach zur Lösung der Aufgabe wird, welche der Stoff ihr
stellt — dass dieser Geist sich zuerst gerade auf dem Gebiete Geltung
verschafft, auf dem Kunst und Handwerk, auf dem Schönheit und Ver-
wendbarkeit sich zusammenfinden, das ist bezeichnend für unsere Zeit.
Ja, moderne Kunst malt nicht nur Bilder, meisselt nicht nur Büsten,
die Dinge, die uns umgeben, die Atmosphäre, die uns umschliesst,
sind ihr Bereich. Was nothwendig in die Art unseres Lebens hineingehört,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 59, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0059.html)