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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 66

Text

RANDGLOSSEN ÜBER LONDON.
Von Madame Alphonse Daudet (Paris).
Autorisirte Uebersetzung aus dem Französischen von L. Frank.
(Schluss.)

Heute hat man mich zu einer Sitzung im Club schriftstellernder
Damen Londons eingeladen, und ich bin sehr gespannt auf denselben.
Fräulein Bella holt mich im Cab ab, und wir fahren durch ein in
Nebel gehülltes, fast kaltes London, dessen unklaren und in gelblichem
feuchten Dampf entfernten Strassenboden ich aber liebe, mit dem Halbdunkel
eines Aquariums, aus dem die Vorübergehenden, die Wagen nach und nach
wie aufeinanderfolgende und jedesmal genauere Proben auftauchen;
die Denkmäler nehmen ein träumerisches Unbestimmtes an, bei den
königlichen Standbildern, Königin Anna, Königin Elisabeth, werden die
steinernen Kronen unsichtbar, die mit dem Scepter bewaffneten Hände
— denn hier haben Frauen geherrscht und herrschen noch — ver-
schwinden in dichtem Nebel.

Ich ziehe wirklich die Stadt, wie sie heute aussieht, dem London
sonniger Tage vor. Sie zeigt mehr ihren nördlichen Charakter, und
dieses Schweigen der Vorübergehenden, ihr Phlegma kommt besser
zum Vorschein als in diesen vergangenen lauwarmen Tagen, wo
Abends herumziehende Sänger, Leierkästen unter freiem Himmel vor
den Hotels Erinnerungen an Italien und Possen von Sängern ver-
mischten.

Wir betreten einen grossen Saal im Erdgeschoss, wo wir etwa
50 junge oder alte Frauen bereits versammelt finden, die fast alle in
einfacher Toilette sind und sich lebhaft unterhalten. Man stellt mich
sehr artig vor, und sogleich bin ich von plaudernden Frauen umringt,
jedoch sehr in Verlegenheit gebracht durch meine fast vollständige
Unkenntniss ihrer Sprache. Sie helfen mir, die Einen in einem sehr
eingelernten Französisch, die Anderen mit halben Redensarten, die
stets angenehm und doch bezeichnend sind. Da ist Fräulein Ward,
die Verfasserin eines erfolgreichen Romans, Fräulein Stanley mit ihrer
Mutter, da ist Fräulein Shaw, welche mehrmals die Reise um die
Welt für politische oder volkswirthschaftliche Correspondenzen in der
»Times«, deren ständige Mitarbeiterin sie ist, gemacht hat. Hier treffe
ich nicht, was wir Blaustrumpf nennen, die Frau, welche sich einer Kunst wie
einer sehr gewollten Eigenthümlichkeit bedient, indem sie daraus Mittel
zur Befriedigung lächerlicher Eitelkeit macht. Diese Frauen sehen
thätig und arbeitsam aus, und fast alle streiten mit gesundem Menschen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 66, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0066.html)