Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 72
Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg« in Paris (Schoenaich, Gustav)
Text
BERG« IN PARIS.
Von Gustav Schoenaich (Wien).
Der beispiellose Erfolg, den nunmehr auch die »Meistersinger« in
der grossen Oper von Paris davongetragen, ist eine vielbedeutende
Thatsache. Journalistische Flachköpfe werfen das Wort Mode hin
und glauben damit die Erklärung für eine Erscheinung geboten zu
haben, deren Gründe unendlich tiefer liegen. Die Mode tritt freilich,
wenn eine religiöse, philosophische, wissenschaftliche oder künstlerische
Idee sich triumphirend der Köpfe bemächtigt hat, als ein unwillkommen
parasitär wirkendes Moment hinzu. Sie ist aber in allen Fällen, in
denen es sich um den Durchbruch eines grossen, neuen Gedankens
handelt, der die Gesellschaft nicht genügend vorbereitet findet, gänzlich
unvermögend und auch gar nicht gewillt, den Sieg einer solchen
Sache zu bewirken. Die Mode drängt sich nur auf das Terrain
einer gewonnenen Schlacht, jubilirt mit, belästigt und depravirt die
Sieger.
Die Einnahme von Paris durch Wagner ist das Ergebniss einer
fast vierzig Jahre währenden, mit eiserner Consequenz durchgeführten
Cernirung bis zum Eindringen des Belagerers in die Akademie de
musique, die grosse Oper. Die Letzten, welche eine verzweifelte An-
strengung machten, diese Position gegen den fremden Eindringling
zu behaupten, waren die Pariser Componisten und Verleger. Es war
am Ende ein Kampf um die materiellen Interessen. Die Schweizer-
garde, die ihren Verdienst gefährdet sah. Aber die älteren Sachen,
wie Gounod’s und Rejer’s Opern, sind überwunden und vermögen durch
ihren künstlerischen Gehalt das Publicum nicht mehr zu fesseln und
die Neueren, Victor d’Indy, Caesar Franck und Andere, sind von
Wagner abhängig. Kein Wunder, dass die künstlerische Welt das
grosse Original den kleinen Copien vorzieht. Also Richard Wagner
thront nun endgiltig, für nicht absehbare Zeit in der grossen Oper.
Adolf Ernst, dessen Uebertragung der »Meistersinger« ins
Französische mit Rücksicht auf die ausserordentlichen Schwierigkeiten,
welche die Wagner’sche Sprache, die nach deutscher Scholle duftet,
dem Uebersetzer bietet, eine erstaunlich gelungene genannt werden
muss, hat in einer Sonntagsnummer des »Gaulois«, die in ihrem ganzen
Umfang den »Meistersingern« gewidmet ist, über das Werk eine Reihe
geistvoller Bemerkungen veröffentlicht. Wir bieten im Folgenden davon
einige Proben, welche erhärten dürften, dass das Erfassen Wagner’scher
Werke in Paris denn doch über das Verständniss, welches die Mode
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 72, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0072.html)