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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 71

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RANDGLOSSEN ÜBER LONDON. 71

legen sein liess, das Leben höher zu gestalten und umzubilden, welche
sich dies zur Aufgabe und zum obersten Gesetz machte.

Seine Zeit malen und im Bilde festhalten, heisst ja sicherlich, ihr
den grössten Dienst erweisen, sie über die Gegenwart hinaus lebens-
fähig machen, sie in diese ununterbrochene Entwicklung sich einreihen
lassen, in der die Gegenwart sich mit der Vergangenheit eint und sich
bereits für die Zukunft vorbereitet; aber man verliert dabei vielleicht
den wahren Zweck der Kunst — dieser liegt ausserhalb Zeit und
Raum und muss von obenher ausgleichen, um nicht zu sehr den
Strömungen zu dienen.

Das Museum von Kensington, ein Museum mit Nachbildungen
der schönsten Denkmäler, der schönsten bekannten Werke, Grabmäler,
Triumphbögen, Säulen, Tempel, Standbilder. Es ist die Welt der Wunder,
eine Uebersicht über die gesammte Kunst in fortlaufenden Reihen von
Sälen, die mit Wandteppichen, Spitzen, Edelsteinen, Thonwaaren ange-
füllt sind; zwei Aquariumhäuser bewahren hier sogar Pflanzen und
unterseeisches Blattwerk, dessen Nachbildung gewerblichen Zeichnern
dienen kann. Dies erklärt jenen Fortschritt in den Zeichnungen englischer
Stoffe, die gerade Mode sind, in denen man alle ausländischen Künste
vertreten findet. In Contonnes, Musselins, Geweben jener Gazestoffe,
die die leuchtende Bewegung eines Widerscheins im Wasser haben,
ist England unübertrefflich, ebenso wie in den Farbenschattirungen
jener Holztäfelungen oder jener Pflanzentöpfe, welche jedes britische
Haus äusserlich schmücken und mit den hinaufragenden Stengeln die
düsteren Wände beleben.

Ein Museum von Gemälden und Zeichnungen in den oberen
Stockwerken — ein Saal, der für die Bilder englischer Schriftsteller be-
stimmt ist — Manuscripte in Menge. Es ist auch Alles reichlich vor-
handen, aber das Museum weniger schön als die Nationalgalerie; nur
ungeheuer dadurch, dass man alle Länder vertreten findet, und durch
den Weg, den man in diesen grossen Sälen in Gedanken zurücklegt,
vom französischen Möbelstück von Rinsener bis zum Sarkophag des
Ramses. Welche Freude empfindet man aber auch, die ganze französische
Grazie gerade in jener Toilette der Maria Antoinette, jenen Lehnstühlen
Ludwig XVI., sogar in jenen Tischen und Schreibpulten von Baule
wiederzufinden, welche die allgemeine Nachahmung bei uns verdorben
hat, die aber in diesem fremden Museum die schönen und seltenen
Möbel bleiben, mit denen man nichts ringsum vergleichen kann.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 71, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0071.html)