Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 70
Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)
Text
das Haar anklebend, mich an schwimmende Puppen, jenes Badespiel-
zeug für Kinder, erinnert. Dies würde bei uns eine Zerstreuung sein,
an der man wenig Geschmack finden möchte: nicht genug Licht, nicht
genug Inscenirung; aber hier werden die körperlichen Uebungen um
ihrer selbst willen geschätzt, sie haben eine eigene Schönheit, und dies
genügt den Zuschauern und Zuschauerinnen.
Der Besuch bei Burne Jones erinnert mich an den bei Meredith:
beim Maler wie beim Dichter dieselbe Einfachheit in Wohnung und
Aufnahme, dieselbe Liebe zu einer einsamen und besonderen Kunst.
Man führt uns in einen Garten oder vielmehr auf einen grünen Rasen-
platz, einem Obstgarten ähnlich, welcher die beiden Ateliers trennt,
von denen eines hauptsächlich in der Voraussicht gebaut wurde, grosse
Gemälde ausführen zu können. Gleich am Eingang zeigt ein grosses
Bild, dasjenige der Tochter des Malers, den gewöhnlichen und bevor-
zugten Typus seiner Werke, die prächtigen, tiefliegenden und blauen
Augen, den nachdenklichen Mund, überhaupt das Ganze eines wohl-
geformten Gesichtes und ernster Träumerei, das sich in seinen Ge-
mälden wiederfindet, in denen, welche wir fast noch als Skizzen sahen,
mit einer heldenmüthigen Begeisterung: zuerst das Schiff des Ulysses,
den Sirenen preisgegeben, kleine, verrätherische Gestalten, die in den
anziehenden Felsen gruppirt sind, elegante Lemuren, ganz Frauen, nicht
mehr die Sirenen der Fabel, die halb mit Schuppen bedeckt sind. Das
Schiff nähert sich, ungeheuer und siegreich, seine Insassen sind am Bug
aufgestellt, ohne Sorge um die bezaubernden Lieder oder die bösen
Feen. Ferner der »Abschied des Perseus«, die Uebergabe des Schwertes,
ein heldenhaftes Sujet, schöne Stellungen. Burne Jones ist der Maler
fabelhafter Träumereien, grosser Sagen. In der »Neuen Galerie« werden
wir eine »Schöne im Walde« finden, welche von wilden Rosenblüthen
gefangen unter Blumen schläft, ferner einen Zug junger Mädchen auf
dem Felde; und stets dieser selbe vieleckige Typus, der den Köpfen
das Aussehen ernsten Idealismus gibt, eine träumerische Festigkeit.
Man hört nicht auf, auf der bescheidenen Treppe, an den Atelierwänden
diese prächtigen Bilder zu bewundern, diese schlanken und behenden
Gliedmassen mit durchsichtigen Nägeln.
Ich finde Niemand, den man bei uns mit Burne Jones vergleichen
könnte, Gustav Moreau vielleicht ausgenommen: sie ähneln sich durch
ihre Sorge um eine ideale Kunst, durch denselben Geschmack für das
Unbekannte und Sagenhafte, nur mit einem Unterschied in der Dar-
stellung der weiblichen Gestalt welche bei Burne Jones mehr classisch
und bei Gustav Moreau griechisch aussieht.
Für uns Franzosen, die wir für die Gegenwart eingenommen sind
und seit 25 Jahren die Malerei oder Wiedergabe moderner Sitten und
Gesichter und der zeitgenössischesten Ereignisse der strengen Wirklich-
keit untergeordnet haben, ist es ein ausserordentlicher Reiz, bei Fremden
die ursprüngliche Kunst wiederzugeben, diejenige, welche sich ange-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 70, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0070.html)