Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 73
Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg« in Paris (Schoenaich, Gustav)
Text
ihren Götzen entgegenbringt, weit hinausgeht. Adolf Ernst ist ein
guter Franzose. Einer hochstehenden Dame, welche ihn apostrophirte:
»Sie sind ja eigentlich ein Deutscher,« antwortete er spitz: »Im Gegen-
theil, gnädige Frau, ich bin ein Elsässer.« Als solcher schreibt er
über die »Meistersinger:
»Niemals hat sich die Einbildungskraft Richard Wagner’s freier
im weiten Reiche seiner Träume ergangen, niemals hat er diese Träume
lebensvoller gestaltet und in tiefere Farben getaucht. Auch ist es weder
einem Musiker, noch einem Dichter gelungen, ohne sich nur um eine
Linie von einer bewunderungswürdigen Reinheit des künstlerischen
Ausdruckes abdrängen zu lassen, in so vollendeter Weise ein Bild
des täglichen Lebens und greifbarer Wahrheit zu geben.
Kann die »Hochzeit des Figaro« als das am feinsten empfundene,
in den reinsten Strahlen erglänzende Meisterwerk der lyrischen Oper
gelten, so sind die »Meistersinger« als Meisterwerk derselben Gattung
mächtig, verblüffend durch ihren Reichthum, fast durchwegs intim und
dennoch stellenweise erhaben. Auch sie erreichen die Durchsichtigkeit
des »Figaro« — aber die Klarheit, mit der der Blitz die Dinge be-
leuchtet, wechselt mit dem süssen Dämmerlicht des Traumhaften. Dicht
neben dem freudigen Ausbruch der Heiterkeit des Volkes stellt sich
der tiefe Ernst religiösen Gefühls. Eine sehr einfache Handlung, die
sich unterhaltend und rasch abspielt, gibt völlig natürlichen Anlass zu
geistvollen und tiefgreifenden Reden über die Kunst. Das glorreiche
Blühen einer jugendlichen Liebe überstrahlt mit Liebreiz und Lächeln
die Vornehmheit eines gebrachten Opfers, die milde Süssigkeit eines
gütigen Herzens und die Heiligkeit des Verzichtens.
In den »Meistersingern«, wie in den anderen Dramen Wagner’s,
lassen sich ohne Schwierigkeit eine Reihe vorhandener Motive nach-
weisen, deren der Tondichter sich bemächtigt hat, um sie umzubilden
und sie zu neuem Leben zu erwecken. Durch seinen Geist erscheint
Alles in neuem Lichte, Alles von ihm neu geschaffen. Gewiss zeigt
sich ein merkwürdiges Zusammentreffen Wagner’s in den »Meister-
singern« mit jener französischen Erzählung aus dem XV. Jahrhundert,
in der eine Prinzessin ihre Kammerfrau dreimal unter verschiedenen
Vorwänden wegschickt, um allein zu vernehmen, was ihr ein Abgesandter
zu sagen hat. Sicher kannte Wagner die Opern Lortzing’s und die
Scene Kotzebue’s in jener deutschen Kleinstadt, wo der lächerliche
Liebhaber seine Verse anzubringen sucht, während das Liebespaar sich
in der Gasse versteckt hält. Gewiss kannte er den »Benvenuto Cellini«
von Berlioz, wo der groteske Fieramosca von den Nachbarn gehetzt,
verfolgt und geprügelt wird und die Carnevalsscene mit überraschender
Wahrheit die gesteigerte Lustbarkeit des Volkes wiedergibt. Auch die
alten Tabulaturen der »Meistersinger«, die Wagenseil herausgegeben
hat, und die historischen Gedichte Meister Sachsens haben Wagner
allerlei Einzelheiten geliefert. Aber was wollen diese Anregungen be-
deuten — gegenüber der bewunderungswürdigen Komödie, die Wagner
geschaffen? Und verhält es sich etwa nicht ebenso mit allen Meister-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 73, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0073.html)