Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 74
Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg« in Paris (Schoenaich, Gustav)
Text
werken der grossen Dramatiker, handle es sich nun um Shakespeare,
Calderon, Corneille, Goethe oder Wagner? Das Stoffliche ist die
Voraussetzung einer Schöpfung — aber kein Werk hat mehr als die
»Meistersinger« auf die Bezeichnung einer Schöpfung im wahren Sinne
dieses Wortes Anspruch.« Nach dieser Charakterisirung der Dichtung
erörtert Ernst die Frage, ob zu der Dichtung der »Meistersinger«,
welcher er schon als gesprochenem Drama eine bedeutende Wirkung
zuspricht, die Musik etwa als eine überflüssige Zuthat trete. »Ist die
Musik — diese wunderbare Musik der »Meistersinger« etwa belanglos
für Komödie Wagner’s, oder ist die Verbindung zwischen Dichtung
und Musik weniger bewunderungswürdig? Man würde damit in den
grössten Irrthum verfallen. Nein, diese Musik ist sicher nichts Ueber-
flüssiges, und ihre Verbindung mit der Dichtung ist die allerintimste.
Nur die Art dieser Verbindung ist eine andere als bei den übrigen
Werken Wagner’s. Im Hintergrunde der äusseren Handlung stehen
innere Vorgänge, ausser den packenden Scenen und komischen Wirkungen,
die in der Dichtung als unmittelbar greifbare Momente hervortreten,
gibt es andere, die ihnen vorhergehen oder ihnen folgen, und welche
allein die Musik wiederzugeben imstande ist. In dem Drama, das sich
in Hans Sachsens Seele abspielt, liegt der Schwerpunkt des Wagner-
schen Werkes.
In ihm liegt dessen überirdische Schönheit und wahre Grösse.
Dieses Drama der Zartheit und Weisheit, dieses Drama echtester
Herzensgüte und lächelnden Verzichtens, dieses Drama, das Sachs
kaum durchschimmern lässt und das er nicht bespricht — dieses
Drama konnte allein die Musik, rein und tief, einfach und erhaben,
wie sie ist, zu ausreichendem Verständniss bringen und durchfühlen
lassen, während das Wort es verschweigt. Welche Worte, die nicht
zu wenig und nicht zu viel sagen, Worte, die aussprechen, was nicht
gesagt werden soll, vermöchten zu sagen, was uns das Vorspiel zum
dritten Act zu tiefinnerstem Verständniss bringt? Diese Töne erzählen uns
von dem inneren Leben Sachsens, seiner schmerzlichen Trauer und
den Gedanken, die ihm heiligen Trost bringen und den milden Glanz
seiner Herzensgüte, seines Dichterruhmes und seiner entsagenden Liebe
über seine Vereinsamung und die bescheidenen Arbeiten seines ent-
behrenden Daseins werfen. Selbst in dem Monolog dieses Actes, der
das Vorspiel gedankenvoll fortsetzt, verräth sein Wort nichts von dem
Geheimniss seines Herzens. Er spricht nur die hohen Betrachtungen
seiner Seele aus, die sich von aller Eigensucht befreit hat und die,
ohne ihre innersten Regungen zu verrathen — die uns lediglich die
Musik vermittelt — sich beschränkt, in ihrer verzeihenden Güte den
immer neu sich erzeugenden Wahn zu betrauern, der überall der Vater
menschlichen Thuns und Leidens ist.«
Man wird gestehen müssen, dass eine Nation, deren führende
kritische Geister ein so intimes, unmittelbares und warmherziges Ver-
ständniss für ein Werk an den Tag legen, das jener unter allen Werken
Wagner’s am fernsten zu liegen scheint, einiges Anrecht hat, mit ihrer
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 74, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0074.html)