Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 75

Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg« in Paris (Schoenaich, Gustav)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 75

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»MEISTERSINGER VON NÜRNBERG« IN PARIS. 75

Wagner-Verehrung ernst genommen zu werden. Adolf Ernst ist nicht
der Einzige, der anlässlich der »Meistersinger«-Aufführung in Paris eine so
intime Vertrautheit mit dem genialen Werke Wagner’s gezeigt hat.
In demselben »Gaulois« hat dessen ständiger Musikkritiker Louis de
Fourcand eine Analyse der »Meistersinger« geboten, welche den Verfasser
in die Reihe derjenigen stellt, die mit einem grossen Kunstwerk auf
vertrautem Fuss zu verkehren berechtigt sind. Die Zahl derer, die den
Organismus einer bedeutenden Hervorbringung recht aus dem Innersten
heraus verstehen, die einem grossen Künstler wahrhaft nachfühlen und
seine Werke in sich nacherleben können, wird immer nur eine geringe
sein. Die Menge geniesst das Stück in Stücken, ahnt, hat einen aus
künstlerischen und stofflichen Anregungen herstammenden Gesammt-
eindruck, von dem sich der Einzelne nur eine mehr oder weniger aus-
reichende Rechenschaft zu geben vermag, und unterwirft sich endlich
gerne der Autorität, die ihr imponirt wird, und zu deren Erstarkung
sie durch ihre Zustimmung gleichwohl beiträgt.

Der Triumph seiner Werke in der grossen Oper in Paris, der
sich in seiner letzten Lebenszeit nur voraussehen liess, hätte Wagner
eine grosse innere Befriedigung gewährt. Es ist einfach lächerlich, sich
Wagner als Franzosenfresser vorzustellen. Ich lernte ihn zwei Monate
nach dem Scheitern des »Tannhäuser« in Paris, im Mai 1861, kennen.
Niemals habe ich auch nur eine Spur von Gereiztheit gegen die fran-
zösische Nation an ihm bemerken können. Wohl aber war er uner-
schöpflich im Erzählen liebenswürdiger und origineller Züge, die ihm
am Volke und an Einzelnen in Paris erfreut hatten. Zwei Jahre nach
seiner Rückkehr nach Deutschland hat er die Organisation derselben
grossen Oper, in der sein Werk einer Clique von Pferdemenschen zum
Opfer fiel, als Muster für die Regeneration des Wiener Hofoperntheaters
in einer Schrift empfohlen. Er hatte für die Vorzüge, mit dem die
Mängel der französischen Cultur Hand in Hand gehen, ein ebenso
offenes Auge wie für die Mängel, welche von den Vorzügen deutschen
Wesens und deutscher Art untrennbar sind. Nur war er der Ansicht,
dass, statt das eigenartige Können fremder Nationen dilettirend nach-
zuahmen, der Deutsche den Muth finden solle, in seinem gesammten
Culturleben ganz er selbst zu sein. Er hat ihn gefunden, und damit hat
er in Frankreich einen Sieg errungen, der, ehrenvoll und beglückend
für Sieger und Besiegte, sich neben gewonnenen Schlachten wohl sehen
lassen kann.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 75, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0075.html)