Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 76
Text
Von F. Schik (Wien).
Die ungeheuerlichen Vorfälle, die sich in unserem Parlamente
abspielten, werden auf lange hinaus den Ausgangspunkt künftiger poli-
tischer Veränderungen bilden. Im Momente ist noch keine Möglichkeit
vorhanden, auch nur die nächsten Folgen klar auszudenken. Schwer-
wiegender als die hastigen Beschlüsse der neuen Regierung werden die
organischen, aus der Natur der Thatsachen von selbst entstehenden
Wirkungen sein.
Die Vorgänge der letzten Woche bilden ein Durcheinander, in
welchem eine richtunggebende Linie nicht ersehen werden kann.
Vielmehr könnte ein Kindergekritzel auf einem Blatt Papier die gegen-
wärtige politische Situation versinnbildlichen. Politische Analphabeten
haben österreichische Geschichte gemacht.
So planlos war das Vorgehen, dass die Opposition sich jedesmal
mit ihrem Widerstände beeilen musste, weil sonst die Regierung sich selbst
widerlegte. Schliesslich verstrickten sich die Machthaber so sehr in
ihre eigenen Massnahmen, dass sie die Polizei zur Aufrechterhaltung
der Unordnung herbeirufen mussten.
Eine einzige Stunde der jüngsten Ereignisse hat die Wiener Be-
völkerung heftiger durchgerüttelt, als die Jahre des antisemitischen
Einerlei dies zu bewirken im Stande waren. Die schwüle, gedanken-
lose Gemächlichkeit durchzuckten nun echte Volksblitze.
Grosse Wählermassen hatten seit vielen Jahren ihre guten Kräfte
an eine Idee vergeudet, welche die wirkliche Gefahr so lange um-
nebelte, bis sie schleichend ganz nahe herangerückt war. Nur dadurch,
dass eine Minorität der Wachsamen die Sorglosen ins Schlepptau nahm,
wurde verhindert, dass die slavisch-reactionäre Strömung Alle miteinander
wegschwemmte.
Viel persönlicher Mannesmuth kam hiebei zum Vorschein. Freilich
wird sich dieser in der Folge mit modernen geistigen Waffen armiren
und die alten Phrasen ins politische Zeughaus schaffen müssen. Physische
Leistungen in der Politik sind wohl nur die letzten Nothstandsbehelfe.
Nie so deutlich wie jetzt hat sich gezeigt, dass Wien keines Wieners ent-
rathen kann, dass alles Unvereinbare zwischen den Parteien nur aus persön-
lichem Getriebe entsteht und dem allgemeinen Interesse zuwiderlaufend ist.
Wenn so fundamental verschiedene Parteien doch in der Bedrängniss sich
zusammenfinden, dann haben sie die angebliche Berechtigung verwirkt,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 76, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0076.html)