Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 67

Text

RANDGLOSSEN ÜBER LONDON. 67

verstand heftig gegenüber den Zeitungen und Revuen für ihre Inter-
essen. Ich wiederhole es, ich finde unter ihnen nicht jene Schützlinge
der Directoren, jene, die halb schauspielern, halb schriftstellern und
bei uns die weibliche Literatur in Verruf bringen. Von Fräulein Bella,
der mich Einführenden, welche neben ihrer Mutter ihre interessanten
und gewissenhaften Interviews verfasste, bis zu dem überall bekannten
Fräulein Shaw bleiben alle Schriftstellerinnen Frauen, und in hohem
Grade. Nach einer Stunde in plauderndem Gehen und Kommen, wie
bei einer grossen Classe in der Freistunde — es ist sogar dieselbe
Lustigkeit, derselbe herzliche Reiz — kehre ich nach dem Hotel zurück.

Von einem Sonntag in London kann man sich in Paris gar
keine Vorstellung machen. Dieser Sonntag beginnt wirklich schon
Samstags gegen 4 Uhr, wenn die Verkaufsläden geschlossen oder dem
Schlusse nahe sind und den Käufern nur noch die Hälfte ihrer Ar-
tikel und des Eifers ihrer Angestellten bieten. Ganz London geht aufs
Land oder in sein Weichbild; nach der unerhörten Thätigkeit der
ganzen Woche thut der grossen Handelsstadt diese Ruhe, dieses Auf-
athmen noth wie bei einer Maschine, welche ihren Ueberschuss an
Dampf von sich gibt. In manchen ganz frommen Familien kocht man
sogar am Tage vorher die Speisen, die zum Sonntagsmahle kalt an-
gerichtet werden. Nicht ein Pianoton in den Häusern, keine Orgel
beim Durchfahren der Strassen, Alles steht still, schweigt, ruht
sich aus.

Bei einer Einrichtung, bei der man seine Gewohnheiten, seine
Bücher, eine Fertigkeit an lebenden Gedanken besitzt, kann dieser
Sonntag angehen und bietet sogar Gelegenheit zu grossen Wettrennen
ausserhalb Londons oder innerlichen Betrachtungen. Aber in einem
Hotel, wo für uns nichts an Ueberlieferung oder Erinnerung vorhanden
ist, wo gerade im Gegentheil, wie man sagen würde, fremde Atome
fest bleiben, drückt diese erzwungene Unthätigkeit nieder und regt
auf; wir versuchen sie abzuschütteln und besuchen einzelne Ausstellungen,
wie die neue Galerie, wo sich ein schönes Gemälde von John Sargent
und köstliche Burne Jones befinden, die wohl denen, welche wir
in Paris sahen, überlegen sind.

Darauf auf dem Wege durch die Stadt, mitten durch die City,
nicht mehr so lebhaft wie gewöhnlich, aber alles Verschliessbare her-
untergelassen, alle Bureaux zu. Nichts Lebendes, nur noch die voll-
ständig und genau bezeichneten Schilder mit den »Nachfolgen«, den
»Gesellschaften«; und dasjenige, welches mich sinnen macht, hat mir
den besten Massstab für das intime Leben des englischen Volkes in
der Familie gegeben: »For our children«, für unsere Kinder. Die
Windeln, welche gestern aus den Glasscheiben heraussahen, diese nied-
lichen Einmummelungen, diese schottischen oder Seeanzüge, diese Hüte,
Baretts: »For our children«, für unsere Kinder.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 67, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0067.html)