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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 68

Text

68 DAUDET.

Die Omnibusse, die Einspänner, die man viel weniger zahlreich
als während der Woche sieht, die Kutscher in Gala, hohe Hüte,
Blumen im Knopfloch. Und ferner nicht ein Verkaufsladen, ein Ge-
schäft geöffnet: es ist der Tag für die Seelen. Wir kehren durch
Green Park zurück, wo der Sonntag mit Reden aus dem Stegreif ge-
feiert wird. Es ist kalt; die grünen Wiesen haben nicht ihre schöne
Entfaltung wie im Frühling und sind verdeckt wie die in den Landauern
verborgenen Toiletten von dunklem Wollstoff oder Otterfell. Trotzdem
predigen, ungeachtet des rauhen Nordwindes, Männer mit einförmiger
Stimme, die auf Wagen hinaufgeklettert sind, wie steife Schattenbilder,
und die Vorübergehenden bleiben phlegmatisch, maschinenmässig stehen.
Wie sozusagen jene Feindschaft zwischen bedecktem und klarem Himmel
besteht, so versteht man auch bei diesem gelblichen Nebel mit seiner
einschläfernden Düsterheit die Liebe zum »home«, welche aus dem eng-
lischen Haus einen Zufluchtsort und das Vorbild für den in der Fa-
milie herrschenden innigen Verkehr gemacht, es mit Eleganz und Be-
quemlichkeit versehen hat. Da vereint sich in der Weisse des Täfel-
werks die Freundlichkeit der Mauern mit dem Leben in den Stoffen,
welche in so glücklicher Weise indische und japanische Kunst mit
einem Etwas aus unserem XVIII. Jahrhundert mengen.

Und was sollte man über den Geschmack der Sportsbelustigungen
unter freiem Himmel, der gewürzten Nahrung und heisser und starker
Getränke sagen, durch welche die Engländer die Melancholie eines
Klimas zu bekämpfen suchen, bei dem wirklich die körperlichen und
geistigen Kräfte abnehmen! Dies würde auch die Erklärung bilden für
diese fortwährende Auswanderung nach Frankreich, Italien uud der
Schweiz für ein Volk, das die Lebhaftigkeit sucht, die stärkende Luft,
welche ihrer Insel mangelt.

Wir sind zu einem Thee bei dem grossen englischen Verleger
M... M... eingeladen. Während sich jedoch mein Gatte und mein
älterer Sohn direct dahin begeben, gehe ich mit Lucien vorher noch
zu dem Maler Alma Tadema, bei dem uns unser Führer und Leiter
in London, der ausgezeichnete Romanschriftsteller Henry James, vor-
stellt. Wir sind in St. John, einem ehemals James Tissot gehörigen
Hotel, das aber der jetzige Besitzer vergrössert hat, indem er an das-
selbe Theile von Gärten oder Gewächshäusern, neue Gebäude anfügte.
Dies gibt dem Ganzen ein interessantes und künstlerisches Gepräge,
wobei sich das Auge über die überallhin vertheilten Blumen freut,
über die Pflanzen, die sich am Fusse einer Treppe emporranken, über
ein mit Marmorfliesen eingefasstes Becken, die wiederum mit Rosen-
blättern übersäet sind, um ein frisches und lebhaftes Bild zu erzielen.
In dem grossen und schönen Atelier mit den glänzenden Reflexen wie
bei unsichtbarem Mondschein bewahrt das bemalte und mit Perlmutter
und Elfenbein eingelegte Piano auf seiner inneren Füllung Autographe
bedeutender Musiker.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 68, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0068.html)