Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 60

Decorative Kunst (Cantacuzène, Elsa Prinzessin)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 60

Text

60 CANTACUZÈNE.

was diesem als Bedürfniss erwächst und als Erfüllung dieses Bedürfnisses
Gestalt gewinnen will, dess’ walte sie!

So entsteht uns eine decorative Kunst, die nicht mehr bloss als
treibhausbedürftige Luxuspflanze ausserhalb und neben unserer eigenen
Existenz ein künstliches Dasein führt, sondern dieser selbst angehört
als ein nothwendiger organischer Theil ihrer Bethätigung. Wäre dies
aber denkbar, wenn sie immer wieder und wieder alte historische
Style »neu inscenirt«, alte Gedanken von der Gothik bis zum Empire
ad infinitum noch einmal denkt? »Gilt nicht vielmehr vor Allem für die
decorative Kunst, was wir nun endlich von der grossen begriffen
haben, dass nur ganz gut sein kann, was ganz neu ist?«

Ich citire hier Lichtwark, dessen köstlicher kleiner Aufsatz über
den »praktischen Zweck« in seiner klaren, knappen und plastischen
Gestalt mir so recht seinem eigenen praktischen Zweck zu entsprechen
scheint. Der Verfasser durchwandert die Ausstellungen decorativer Kunst
— »in Paris, Brüssel, Dresden, München, Berlin, Kopenhagen oder
Stockholm« — durchwandert sie und schaut und prüft mit den Augen
der Hausfrau; in ihrem Sinne wählt er und — richtet. Man könnte
nur wünschen, dass auch, umgekehrt, jede Hausfrau mit seinen
Augen schaute und wählte, mit seinem sicheren Blick für Alles, was
in schöner Form seiner Bestimmung gerecht wird, mit seiner starken
Empfindung gegen alles Zweck und Zeit Widerstrebende und schon
deshalb auch künstlerisch nicht »ganz Gute«. Die wenigen, aber
schlagenden prägnanten Beispiele, die der Aufsatz enthält, werden ge-
wiss Vielen eine neue Weise, die Dinge anzusehen, erschliessen,
Anderen das zum klaren Ausdruck bringen, was sie selbst schon
dunkel empfunden haben — Allen aber gewiss fördernde Anregung
geben. Auch den Schaffenden! Denn weiss nur erst die Hausfrau —
das Publicum — was noththut, um sich ein wohnlich schönes Heim
zu gestalten, so werden auch die Künstler über ihrem Streben nach
Schönheit sicher die Frage, die doch so wichtig ist, nicht vergessen:
»was wir gern haben möchten«.

Dieses unserer eigenen Zeit, unserer eigenen Lebensart Ent-
sprechende, aus ihr Erwachsende, das einzig unserem künstlerischen
Schaffen individuelles Gepräge, dauernde Lebens- und Entwicklungs-
fähigkeit zu geben vermag, das betont auch S. Bing in dem ersten
gleichsam leitenden Artikel des Heftes. »Gerade was die grossen
Kunstepochen immer besitzen, das ist die vollkommene Harmonie
zwischen dem Geist einer Zeit und ihren Werken, die fein reagirende
Schöpfungskraft, die die Kunstform ändert, sobald sich das intellectuelle
Leben der Völker ändert. Wenn einer der grossen Alten heute zurück
käme, er würde der Jüngsten Einer sein und das Ideal, dem er früher
gedient, das damals der Zeit, heute nicht mehr der unsrigen entspricht,
weit von sich werfen.« Und in interessanter und geistvoller Weise
lässt er uns dann einen Rückblick thun auf das Gewesene. Volle
warme Bewunderung weiht er denen, die nach gänzlichem Darnieder-
liegen decorativer Kunst sie kraftvoll wieder geweckt. Aber er erkennt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 60, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0060.html)