Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 61

Decorative Kunst (Cantacuzène, Elsa Prinzessin)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 61

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DECORATIVE KUNST. 61

auch, worin sie gefehlt: ihr ausschliessliches Anlehnen an das Alte!
Dass Jene, die als sieghafte Bekämpfer herrschender Geschmacklosig-
keit so tief eingegriffen haben in unsere Kunstentwicklung, dass Ruskin,
Rossetti, Madox Brown und Burne Jones, dass Walter Crane und
William Morris, jene Reformatoren englischen Kunstgewerbes, dies
grosse Gesetz unbeachtet gelassen und, sich dem Geist der eigenen
Zeit widersetzend, sich in die Vergangenheit zurückgewandt, in ihr
allein die erträumten Ideale suchend, aus ihr heraus sie gestaltend —
das ist der grossen, schönen Bewegung, die von ihnen ausgegangen, zum
Fluch geworden: daran versiegt sie. »Der Archaismus ihrer Werke hält
unsere Zeit ab, sie als ihre wahren Kinder zu grüssen« — sie schreitet
gewaltig weiter und fordert von der decorativen vielleicht vor
aller anderen Kunst, dass sie ihr echt entstamme und ihren Stempel
trage. Ob dieses Neue gut, was es überhaupt sein, was es uns bringen
wird, »ob die Bewegung, deren Entstehen wir beiwohnen, fruchtbringend
oder verhängnissvoll sein wird für die Sache, der sie dienen will«, das
hängt davon ab, ob sie »der Laune des Zufalls, der Caprice, den mehr
oder weniger guten Einfällen überlassen bleibt, oder dem consequenten
Ernst logischer gesunder Gesetze«. In einem nächsten Aufsatz will Bing,
nachdem er diesmal Rückschau gehalten, einen Blick nach vorwärts
thun. Und wer den ersten gelesen, hat gewiss Lust auf den zweiten
bekommen.

Ich habe die beiden Artikel von Lichtwark und Bing in erster
Linie besprochen, weil man aus ihnen — schon durch das mehr oder
weniger Programmatische — am schnellsten den Gesammteinblick ge-
winnt, wo die neue Zeitschrift eigentlich hinaus will.

Welch reiches Material finden wir aber angehäuft in den mehr
sachlichen Aufsätzen, welche die übrigen Seiten des viel umfassenden
Heftes füllen! Reiches, gediegenes Material in Wort und Bild! Beim
Durchblättern schon fällt die feinsinnige Wahl der theils in den
Text gedruckten, theils in Vollbildern reproducirten Gegenstände auf.
Und wenn man die originellen Glaslampen Tiffany’s, die praktisch ein-
fachen Lichtträger Benson’s, die mannigfaltigen Beleuchtungskörper der
englischen Guilds und flämischer Künstler betrachtet und dann wieder
die altvenetianischen Druckstöcke, die schwedischen Sculpturen, die
Ausstellungsräume von Tervueren, dann dankt man es den Heraus-
gebern, dass sie ihr Blatt den Besten des Auslandes gleichermassen
geöffnet haben wie unseren deutschen Künstlern. Gedankenlose Nach-
ahmung, nationale Unselbstständigkeit soll und wird gewiss nicht die
Folge davon sein. Wohl aber, durch den Austausch der Gedanken,
eine freiere, grössere Anschauungsweise; durch den Reiz des Wett-
bewerbes mit anderen Culturen, intensiveres Streben, selbst sein Bestes
zu geben und damit stärkeres Ausprägen eigener Individualität. Deutsche
Eigenart kann also nur daran erstarken. Weit mehr als indem man ihr
alles Fremde aus dem Wege räumt, so dass sie möglichst wenig davon
höre und sehe! Wer solch ein Abschliessen nöthig hat, um fremden
Einflüssen nicht zu verfallen, wer gleichsam nur mit sich selber ringen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 61, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0061.html)