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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 127

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BETRACHTUNGEN ÜBER DIE ZIELE UNSERER ZEIT. 127

den Kriticismus, die Diplomatie, die Absichtlichkeit dieser Leute. Ah,
Alles sagen, Alles wagen, sich freimüthig irren, leiden, aber nur nicht
mehr diese Ueberhebung, diese Kälte ertragen. Und, Herrgott, wozu
so viel oratorische Vorsicht, so viel Geheimnissthuerei, so viel Diplomatie,
so viel Spannung? Alle diese Menschen sind mir wie alte Leute vor-
gekommen oder, besser gesagt, an Stelle von Menschen fand ich
Literaten. Aber glauben Sie, dass die Schriftstellern alle Menschlich-
keit ersetzen kann? Mit seinem Herzen leben, sich selbst und dann
erst sein Talent vervollkommnen, sich eine reine Gemeinschaft
schaffen, leiden, das sind jene Grundsätze, welche Jeder seit Langem
befolgen sollte! In wie vielen von diesen brillanten Büchern, diesen
ingeniösen modernen Dichtungen finden Sie das, was ich das Herz
nenne, jenes dunkle Wort, welches die Frauen so gut verstehen, dass
sie daraus das Studium ihres Lebens machen und welches die alten
Dichter die »Töne der Seele« nannten? Beinahe nirgends, aber überall
bis zum Ueberdruss diese Spielereien der Talente. Sie haben genug
davon? Also beginnen Sie jene Principien von sich zu weisen, welche
all das verursacht haben!

Weisen Sie diese Grundsätze von sich, und Sie selbst werden
verwiesen sein! Das ist nöthig. Stehe allein da! Gehen Sie ein wenig
abseits und suchen Sie sich diejenigen aus, welche Ihnen rein genug
erscheinen, um mit Ihnen beisammen sein zu können. Sie werden
sehen, auf wie viel verschiedene Arten die Bilder der Menschen Ihnen
unter der Hand zusammenbrechen, zusammenstürzen. Nein, sehen Sie,
sehr wenig Leute um sich herum und einige stärkende moralische
Mittel, das ist das ganze Gepäck eines activen Menschen. Ich bete
Emerson an, weil ich ihn niemals geöffnet habe, ohne darin einen
milden Satz gefunden zu haben, der mich wieder gerade aufrichtet.
Er ist für mich eine Verjüngung des Blutes. Ich habe auch Carlyle,
Poe und Laforgue bei mir, das sind fast meine einzigen moralischen
Gegengifte, mein Reisegeld, die gewiss auch ihre Begleiter finden.

Das Leben, der Charakter ist Alles! Der Charakter bringt kein
Talent, aber er führt es bei denen, die welches besitzen. Ein Mensch
von schönem Charakter kann erbärmliche Gedichte machen, aber ein
Mann von niedrigem Charakter wird niemals schöne machen. Für den
Einen liegt die Möglichkeit des Misslingens, für den Anderen die
Gewissheit vor. Wir haben gelebt, Sie und ich, inmitten von Leuten,
welche in literarischen Dingen sehr erfahren aber sonst nur grosse
Kinder waren, rudimentäre Menschen, Fehlgeburten, Leute, welche
jede moralische Frage zum Gähnen bringt, und denen das Leben
nichts Anderes schenkt als ein paar Metaphern. Meinen Sie — in vollem
Ernst — dass unsere Dichter zwischen Dumas fils und Ibsen einen
Unterschied erkannt haben, abgesehen von der technischen Ueber-
legenheit der Dramen Ibsen’s? Sie haben über Dumas das Kreuz ge-
brochen wegen der Niedrigkeit seiner scenischen Kunst, und sie haben
nur gelobt wegen der äusseren Schönheit der Dialoge und der tragi-
schen Disposition seiner Dramen. Ich habe Viele gefragt, was sie über

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 127, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0127.html)