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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 128

Text

128 MAUCLAIR.

Nora, Brand, Borkmann denken, und versichere ich Ihnen, das moralische,
d. i. das tragische Verhängniss dieser Gestalten ist ihnen völlig im
Dunkeln geblieben. Einer unserer besten Romanciers sprach jüngst in
einem Vorwort von seinem Wunsch, einmal eine rein geistige Emotion
sich erheben zu sehen über alle Erregungen der Sensibilität. Er
meint, dass die Ethnologie z. B. durch die Vorführung von Rassen-
kämpfen eine sehr starke, generalisirtere Erregung hervorrufen könne
als die Darstellung eines individuellen Dramas. Er hält die reine Ver-
nunft für eine Quelle von Erregungen, würdig der Zukunft, jedenfalls
der Zukunft des Geistesadels. Niemand hat ein Wort über dieses
Todesurtheil unserer individuellen Künste geredet, nicht einmal in
irgend einem Winkel der Revuen, wo die Fragen der Coterien so oft
ihren Platz finden. Sprechen Sie zu diesen Leuten von Sociologie,
Moral, Massenpsychologie, unterhalten Sie sie mit einer allgemeinen
Idee, welche das Leben einer Nation ausmachen kann, sprechen Sie
mit ihnen vom Pauperismus, von der Agonie des centralen Europa
und der lateinischen Rassen, sie werden antworten: »Das geht uns
nichts an. Wir sind Künstler!« Sie fragen, was ihnen dann zur Kunst
wird? Ich habe gesucht und nichts gefunden. Ich constatire ein gewisses
Interesse für Formen, ein Register von technischen Verfahren, aber
— kein Feuer, wo eine unruhige Seele sich wärmen könnte. Also —
Künstler sein? Aber was ich will, ist: Mensch sein. Und das werden sie
mich nicht lehren, deshalb nehme ich meinen Weg und suche anderswo.

Meine Schlussfolgerung: Drücken Sie jetzt Alles durch Ihren
Charakter aus, wie wenn es Ihnen nicht gegeben wäre, eines Tages
Alles — mit mehr Echo — durch die Literatur auszudrücken. Be-
trachten Sie sich, wie wenn Sie auf die menschlichen Mittel
beschränkt wären, ohne die literarischen zu benützen. Ihre Bücher
werden dann sein, was sie sein werden, es läuft ja so viel Zufall beim
Erfolg der besten Bücher mit. Aber Sie selbst werden wenigstens sein,
was Sie sein wollten: Ein Mensch, der an sich selbst mit reinen Händen
gearbeitet hat. Ich habe Ihnen gesagt, was ich Ihnen sagen wollte.
Kehren Sie nach Hause zurück, rüsten Sie sich, lieben Sie Ihre Zeit
und erwarten Sie Alles von Ihrem Gewissen und Ihren natürlichen
Fähigkeiten, nichts von den Schulen!«

Das sind so ziemlich die Gedanken, welche ich einem der Brief-
schreiber, wenn er mir zu Gesicht käme, mittheilen wollte. Es ist un-
leugbar, dass wir zu viel Bücher fabricirten und zu wenig Menschen
erzogen. Eine Wiedererhebung des Menschen ist nöthig, ein reiches,
kühnes, verständiges Leben, ein werthvoller Gebrauch unseres Blutes.
Doch nicht flüsternd, klügelnd, indem man sich verschliesst, gelangt
man dahin Jemand sagte mir: »Ah, Sie suchen Abenteuer? Aber
sind das die Rufe eines Poeten?« Was liegt an den Namen? Ob mein
Ruf der eines Dichter ist, wer kann es wissen? Aber es ist der Schrei
eines Menschen, das weiss ich!


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 128, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0128.html)