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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 129

Text

ÜBER DAS KÜSSEN.
Von Oscar Panizza (Zürich).

Wenn das Küssen weiter nichts wäre, als was die materialistische
Weltauffassung aus ihm macht: die Contractur des musculus sphincter
oris
unter gegenseitiger Näherung, Berührung und Abschilferung des
in Frage kommenden Lippenpaares, dann stünde es schlecht um diese
Briefe, Siegel und Vorboten des Liebesgottes — ach, und dann wäre
es schlimm bestellt um die jungen Mädchen, die einzig und vor Allem
darauf bedacht sind, Kussgelegenheiten zu erfinden und Küsse sich
stehlen zu lassen im Hellen und im Dunkeln; denn zur gegenseitigen
Quetschung und Abschilferung des Schliessmuskels des Mundes, des
musculus sphincter oris, liesse sich kein Mensch herbei, besonders die-
jenigen nicht, die, auch nur für kurze Zeit, von einer Schliessung des
Mundes durchaus nichts wissen wollen, die ewigen Plaudertaschen, die
jungen Mädchen selbst.

Aber, Gott sei Dank, das Küssen nimmt sich ganz anders aus,
wenn wir von der Epidermis und dem Schliessmuskel des Mundes ab-
sehen und uns in die Psyche begeben und dort die Scala von Empfin-
dungen und Ahnungen verfolgen, die mit dem Austausch jenes merk-
würdigen Symbols und seiner stummen Geberdensprache in uns erzeugt
werden, ja für die eigentlich die Berührung der Lippen nur das äusser·
liehe, oft nebensächliche Begleitzeichen bildet.

Jede zufällige, unbeabsichtigte, unvorhergesehene Berührung von
Fleisch zu Fleisch, von Haut zu Haut, von Epidermis zu Epidermis
bei unseren Nebenmenschen, z. B. im Gedränge, ist uns peinlich und
äusserst zuwider. Fröstelnd ziehen wir uns von solchem Rencontre zu-
rück, wohl in der stummen Ahnung, dass Uebertragung von irgend
Etwas stattfinden könne und dass unsere Individualität und Singularität
gestört werden kann. Also Uebertragnng von irgend Etwas findet
dann höchstwahrscheinlich wirklich statt, und wären es auch nur
Nervenströme, die durch die Reizung der Epidermis und der darunter
liegenden nervösen Endorgane hervorgerufen wurden. Wenn dies schon
bei den Fingern der Hand der Fall ist, wo wir die feinste Unter-
scheidung beim Händedruck, er sei von einem alten Mann, von einer
Dame, von einem jungen Mädchen, von einem Kinde, von einem uns
Wohlwollenden, von einem uns Misswollenden, von einem gänzlich
Indifferenten, zu machen wissen, wie viel mehr bei einem so reich aus-
gestatteten nervösen Endorgan wie der Lippe, die schon mit Rück-
sicht auf ihre anderweitige Verwendung als Wächterin des Athmungs·
geschäftes und ihre Unabkömmlichkeit im Hinblick auf die Geberden-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 129, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0129.html)