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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 130

Text

130 PANIZZA.

sprache sich nur im äussersten Nothfalle dazu hergeben könnte, sich
den Mund verschliessen zu lassen.

Wenn also schon Berührungen von Nackt zu Nackt äusserst
lästig empfunden werden und die Lippe tausend Gründe für einen
hätte, diese vornehmere und wichtigere Stelle der Körperoberfläche
und des Körpereinganges nicht der Pressung und Berührung preiszugeben,
welch wichtige Momente müssen es sein, die all diese Rücksichten bei
Seite schieben und zu jener elektrischen Entladung führen, die wir »Kuss«
nennen?

Ist der Kuss das vorbedeutende, unbewusst getauschte Symbol
für eine andere, spätere, intensivere, noch zu erwartende, die Nerven-
endigungen in directeren, gegenseitigen Contact bringenden Berührung, also
ein rein sexuelles Zeichen, ein erotisches Sigel in der Kurzschrift der Liebe?

Oder ist es zunächst nur der Austausch und die Aufhebung von
conträren Spannungen und Dranggefühlen, die sich in beiden Theilen,
in beiden Individuen, die lange nur durch Blicke, Worte und Hände-
drücke verkehrt haben, angesammelt haben?

Aber warum dann gerade durch den Mund den Austausch vor-
nehmen, die Wogen sich glätten lassen, wo in den Händen viel breitere
Flächen zur Verfügung stünden?

Ist die Lippe, weil dem Gehirn näher und gleichzeitig in der
Nähe des Herzens, ein glücklicherer und sichererer Entlader nervöser
Dränge, als die entfernten, kühleren Extremitäten?

Oder war die Lippe wegen des durchscheinenden Roths des
Herzblutes, welch letzteres überhaupt als Sitz des Lebens betrachtet
wurde, als lauterer und intensiverer Verkündiger von Gedanken und
Gefühlen angesehen gegenüber jeder anderen Stelle des Körpers?

Oder war es das musculöse mimische Spiel beim Sprechen und
Verkünden von so viel Bitterkeiten und Süssigkeiten des Innenlebens,
welches den Eroberer, den Werber, den Brutalen auf diese Knospe zu-
stürzen liess, um sie zu quetschen, zu brechen und zu ersticken?

Oder — letzlich — ist es einfach die tappig-zugreifende Manier
des Kindes, welches Alles in den Mund steckt, und welches, auch er-
wachsen geworden, selbst die Liebessehnsucht in die Magensprache
übersetzt und sein wildes Verlangen: ich hab’ dich zum Fressen gern!
nur wegen der factischen Unmöglichkeit mit dem Kuss, mit dem An-
satz zum Beissen, bewenden lässt?

Ach, meine schönen Damen und sehr werthen Fräuleins, Sie
dürfen sich glücklich schätzen, in einer dem Licht zustrebenden Zeit
zu leben, in der Sonne, Blumen, Rosen und Frauenlippen geschätzt,
gepriesen und geküsst werden dürfen. Noch ist es nicht lange her —
und noch ist die Zeit nicht ganz vorbei — dass alle diese Dinge mit
dem Horror des Schauderns, mit dem Makel der Sünde, mit dem
Stempel der Gemeinheit, mit der Etiquette teuflischer Sinnenlust bedeckt
waren und selbst vor Sinnenlust brennende Eiferer sich ein Vergnügen
daraus machen durften, naive, kindlich-gläubige Mädchen auszubaldowern
und in ihren heiligsten Naturempfindungen zu beschimpfen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 130, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0130.html)