Text
Hören wir, was der kühle Dialectiker und groteske spanische
Jesuit Sanchez über diesen Gegenstand zu sagen weiss:
»Soll ich jetzt lateinisch oder französisch mit Ihnen reden? —
Oder deutsch? — Ich will das Lieblichste in Deutsch — das Gefähr-
liche in Französisch und das Niederträchtige in Latein geben.«
Man sollte glauben, dass wenigstens Ehegatten sich straflos küssen
dürfen. O mein Gott, du sündhaftes Wien, wie weit bist du entfernt
von dem Ideal scholastischer Tugendweisheit, und welche Berge von
Sünden hast du durch Küssen, sagen wir seit deinem grossen Prediger-
schalk, Abraham a Santa Clara, zusammengehäuft! Nur als äussere
Liebeszeichen, indicia amoris, entscheidet Sanchez, sind diese Küsse
erlaubt und nicht in der Oeffentlichkeit, also z. B. im Stadtpark.
Gehen sie aber über die rein äusserlichen Symbole hinaus und haben
Erregung im Gefolge, ob voluptatem captandam, dann sind sie — Tod-
sünden, peccata mortalia, denn jede sinnliche Berührung zwischen Ehe-
gatten, die nicht im directesten Bezug zur Erzielung von Nachkommen-
schaft steht — non relata ad copulam — ist Todsünde. Denn Sinn-
lichkeit an und für sich, »reinlich und zweifelsohne«, als Selbstzweck,
ist das grauenhafteste Verbrechen im ganzen Bereich der Christenheit.
Ja, was sollen denn dann die Unverheirateten thun? — Die soll
der Teufel holen! O der hat sie schon: Wartet, ich komm’ euch!
Meint ihr, diese Centner-Heiligen und Grotesken des Geistes à la
Sanchez, Alphons de Ligorio, Gury u. A. haben umsonst gelebt, sich
Nachts die Nägel abgebissen und diese kolossalen Folianten geschrieben,
die heute den unverschämten Platz auf unseren Büchereien wegnehmen?
»O küsse nur! O küsse nur!
Das ist die Freude der Natur «
Meint ihr, es werde immer nur »Die schöne Galathea« ge-
spielt oder der »Venusberg« in Wien inscenirt? Hört, ihr Verruchten:
Küsse auf die Wange, auf die Stirne oder auf die Hand — in partibus
honestis — können, auch zwischen Personen verschiedenen Geschlechts,
wenn sie den Gebräuchen der Pflicht, der Urbanität, der Freundschaft, des
Wohlwollens, der Wiederaussöhnung entsprechen, auch vor der Reise
und nach der Rückkunft, wenn nur keine Faser sinnlicher Delectation
sich dabei rührt — delectatio venerea — als sündlos hingehen. Auch
Küsse zwischen Kindern, die ein Zeugniss gänzlicher voluptuöser Un-
fähigkeit beibringen können — adhuc reputatos libidinis incapaces —
können hingehen.
Der Kuss auf den Mund ist überhaupt gefährlich. Denn der
Mund zählt, sobald das Küssen in Betracht kommt, für das Christen-
thum bereits nicht mehr als pars honesta. Aber jeder Kuss, gleichviel
wie, wo und wann, wohin, von wem gegeben, von wem erlitten,
ist, sobald sich die leiseste delectatio libidinosa rührt, ein Todes-
verbrechen — peccatum mortale. So entscheidet Debrayne, der Ver-
fasser der berühmten Moechialogie, welche so furchtbare Dinge ent-
hält, dass sie nur den Priestern und selbst diesen nur lateinisch in
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 131, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0131.html)