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die Hand gegeben wird. Verfasser dieses musste ein Zeugniss beibringen,
dass er in den Schoss der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt
ist und sich für den Priesterstand vorbereitet, sonst hätte er dieses
furchtbare Beschwörungsbuch gegen die Sinnlichkeit nicht ausgefolgt
erhalten. Debrayne selbst ist Priester, Ordensmönch, docteur en médecine
und professeur particulier de médecine pratique bei dem Orden de la
Grande-Trappe (Trappisten). Das Buch erschien zu Brüssel 1846 in
der Imprimerie Vanderborcht. Jeder Brief dahin ist, wie ich versichern
kann, nutzlos, denn das Buch ist nicht zu haben. Aber der lustige
Léo Taxil hat es in seinen Livres secrets des Confesseurs wörtlich ab-
gedruckt, wie ich für diejenigen, die es auf ihrem Weg zum Venusberg
etwa zu benützen wünschen, mittheilen will.
Noch strenger ist der heilige Ligorio. Selbst der Kuss zwischen
Verlobten — und er hat natürlich keine Wiener Verlobungen im
Auge, die wieder auseinandergehen — ist ihm anstössig. Der Kuss
an sich wäre nicht so schlimm, wenn er ohne die bekannte Libidität
ausgeführt werden könnte. Dies ist aber wenig wahrscheinlich wegen
der Verruchtheit des menschlichen Fleisches — ob corruptam hominis
naturam — so muss auch er, gar wenn er von Mund zu Mund ge-
geben wird — osculum oris ad os — und entsetzlich lang dauert —
si fiat more valde moroso — zu den Todsünden gerechnet werden.
Das Küssen von Knaben, wie ich hier bemerken will, haben jene
Italiener und Spanier bei ihren heiligen Studien sehr wohl vorgesehen.
Das Küssen von Knaben ist erlaubt. Jawohl! Aber — hier hinkt
immer der Pferdefuss hinten nach — nur unter Ausschluss jeder libidi-
nösen Absicht. Hier ist Sanchez unerbittlich.
Das Infamste aber, nur unter dem Zusammenwirken aller Teufel
in der Hölle mögliche Ereigniss, ist der Kuss in den Mund, osculus
in ore, das Schnäbeln — columbinum ist hier der technische Aus-
druck. Hier scheint Sanchez mit einem grotesken Luftsprung von
seinem Sessel aufzufahren und bis zur spinnwebigen Decke seines
Studirzimmers emporzufliegen; und selbst aus den Lettern scheint uns
eine gilbliche, spanisch-verzerrte Grimasse entgegenzuleuchten, wenn er
auf dieses Capitel zu sprechen kommt. Hier bitte nur latein: »si
repetatur crispis et gustatis labris — wer mit den Lippen und der
Zunge solche Bewegungen macht — aut sit columbinum — nach
Taubenart — immissa scilicet lingua unius in os alterius — der ist
verflucht (wie es im »Tannhäuser« heisst), der hat auf keine Gnade
mehr zu hoffen; mag er zehnmal verheiratet sein und Alles nur im
Hinblick auf die Nachkommenschaft thun — hier hilft nichts mehr,
Sanchez selbst könnte nicht mehr helfen, und Ligorio wendet sich ver-
düsterten Antlitzes ab.
Wie aber singt Genée und fidelt der Strauss?
»Ach, so ein Kuss,
Welch’ ein Genuss! «
Ogottogott!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 132, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0132.html)