Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 133
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
DER VERBRECHERWELT.
Von Professor Enrico Ferri (Fiesole).
Autorisirte Uebersetzung von Wilhelm Thal.
Bis in die letzten Zeiten studirten die Criminalisten nicht den
Verbrecher; sie beschränkten ihre ganze Aufmerksamkeit und die ganze
Anstrengung ihrer Syllogismen auf das Studium des Verbrechens, das
sie nicht als die enthüllende Episode eines Existenzmodus, sondern
einfach als eine Verletzung der Gesetze ansahen. Sie sahen in dem
Vergehen nur seine juridische Oberfläche und dachten nicht daran, die
tiefen Wurzeln desselben in dem pathologischen Grund und Boden der
individuellen und socialen Entartung zu suchen.
Die Kunst allein, die sich der Wirklichkeit genähert und directer
von ihr beeinflusst wurde, hatte in den beredten Plaidoyers der Schwur-
gerichtsverhandlungen, im leidenschaftlich bewegten Drama, im Roman
die menschliche Analyse des Verbrechens. Daher hat sie auch häufig
— besonders vom psychologischen Standpunkte und zuweilen mit
der klaren Anschauung des Genies — die Grundlagen der criminali-
stischen Anthropologie vorweggenommen, jener Wissenschaft, die
die Arbeiten Cesare Lombroso’s und der positivistischen Schule seit
kaum 20 Jahren geschaffen haben, und die sich das Studium der
physischen und psychischen Constitution des Deliequenten zum Ziel
gesetzt hat. Unser Ziel besteht darin, an den durch die Kunst unsterb-
lich gemachten Persönlichkeiten zu zeigen, bis zu welchem Grade es
die künstlerische Erkenntniss verstanden, den von der wissenschaftlichen
Erfahrung mit so schwerer Mühe erworbenen Grundlagen hinsichtlich
der wahren Natur der Verbrechen und Verbrecher zu folgen oder sie
sogar vorherzusehen. — Denn die neue Wissenschaft des Verbrechens
stützt sich, indem es die classischen Doctrinen als Ausflüsse einer
phantastischen oder conventionellen Beobachtung der Wirklichkeit ver-
wirft, auf directe und positive Erfahrungen; und so wird sie auch
sicher unsere psychologische Kritik der von den Künstlern geschilderten
Verbrecher leiten.
Die classische Jurisprudenz hat sich von C. Beccasia bis F. Cassara
ausschliesslich mit den Verbrechen beschäftigt; sie liess die Urheber
im Dunkeln und legte ihnen einen einzigen Durchschnittstypus bei, der
sich von den anderen Menschen in nichts unterschied, ausser wenn sie
sich gerade ganz besonders anormalen Verhältnissen, wie dem Spiritis-
mus, der angeborenen Stummheit und Taubheit dem deutlichen Wahn
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 133, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0133.html)