Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 134
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
sinn oder dem ausgesprochenen Alkoholismus gegenübersah. Auch
heute — abgesehen von den vom Gesetze vorgesehenen Anormalien
— können oder wollen die Richter nicht in den Verbrechern Menschen
sehen, die sich von den anderen durch bestimmte mehr oder weniger
deutlich in die Erscheinung tretende Bedingungen physischer oder
psychischer Art unterscheiden. — Ihre einzige Sorge besteht darin,
den nicht auf den Angeklagten, sondern auf das von ihm begangene
Verbrechen am besten passenden Artikel zu finden. Sie unterbreiten
allerdings die Urheber seltsamer, grausamer, verhältnissmässig seltener
Verbrechen der Diagnose der Irrenärzte, doch bei allen anderen ent-
scheiden sie allein. Und bei der sozusagen anonymen Menge billigen
sie höchstens, um ihr Gewissen zu beruhigen, die üblichen, unpersön-
lichen, mildernden Umstände zu, wenn das menschliche Motiv des
Vergehens sich ihnen ganz unwiderlegbar aufdrängt: das Elend, das
den ländlichen Hungerleider zum Diebstahl getrieben, die zügellosen
Instincte des Jähzornigen, dessen Erziehung falsch oder gleich Null ist,
der Hunger, der schlechte Rathgeber der mittellosen Unglücklichen,
der sie zur Empörung oder zur unvermeidlichen Unzucht treibt und
der in den entsetzlichen Niederungen der Welt der Elenden seine Opfer
in Schaaren sucht und findet.
Die Linderung der Strafe, die dann als ein Act der Gerechtig-
keit erscheint, ist im Gegentheil nichts weiter, als ein schreiendes
Zeugniss für die Ungerechtigkeit der Gerichtshöfe. Sie verschleiert die
Unkenntniss der schmerzlichen Bedingungen, die einen Menschen auf
die Anklagebank wegen Verletzung der Gesetze bringen, deren chro-
nisches Verharren und deren besondere Formen, die sie je nach dem
Individuum, dem Lande oder dem Augenblick annehmen, ihre Ueber-
einstimmung mit dem augenblicklichen socialen Leben beweisen. Diese
Uebereinstimmung ist so gross, dass die Kunst es verschmäht, ihre ver-
wischten und eintönigen Umrisse nachzuzeichnen.
Dagegen beschäftigt sich die positive Wissenschaft wenig mit
nominellen Unterscheidungen, die nur zu oft bei Vergehen und Ver-
brechen willkürlich angewendet werden und meistens unnütz sind. So
sind z. B. die Unterscheidungen, die man bei den verschiedenen Ver-
brechen gegen das bewegliche Eigenthum eingeführt, den hervorragen-
den Dieben sehr zum Vortheil, den sie gestatten ihnen, das Gesetz-
buch zu vermeiden, dass gegen die geringfügigen Diebstähle so überaus
streng ist. Und doch sind diese Verbrechen, wenn sie nicht von Gewalt-
thätigkeiten begleitet werden, wie auch ihr juridischer Name lauten
mag, trotz ihrer verschiedenen Formen gleich; es sind alles mehr oder
weniger Aneignungen des Gutes eines anderen.
Die heutige Wissenschaft bemüht sich, die Charaktere klarzu-
legen, die die Verbrecher untereinander unterscheiden, und ihre psychi-
sche und physische Individualität in dem einem jeden von ihnen eigen-
thümlichen Milieu auszudrücken, sie setzt schliesslich an die Stelle des
classischen einzigen und farblosen Typus verschiedene Verbrecher-
physiognomien.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 134, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0134.html)