Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 135

Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 135

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PSYCHO-ANTHROPOL. TYPEN DFR VERBRECHERWELT. 135

Schon vor langer Zeit habe ich sie sämmtlich auf fünf Haupt-
typen zurückgeführt; dieselben sind: der geborene Verbrecher, der
wahnsinnige Verbrecher, der Verbrecher aus erworbener Gewohnheit,
der Verbrecher aus Leidenschaft und der Gelegenheitsverbrecher, und
meine bio-socioligische Classification ist heute von allen Gelehrten
fast angenommen worden.

Diese charakteristischen Typen bewegen sich von einer grösseren
zu einer geringeren Anomalie, d. h. man trifft sie mehr oder weniger
häufig inmitten der grauen Mittelmässigkeit, die übrigens in der Ver-
brecherwelt viel zahlreicher ist als unter den ehrlichen Leuten, die den
namenlosen und unpersönlichen Chorus des täglichen socialen Dramas
bildet.1)

Die Delinquenten, denen ich im Jahre 1881 den Namen »geborene
Verbrecher« gab, sind Opfer der erblichen Entartung, pathologischer
Anomalien (der »Verbrecherneurose«), die sich nicht auf ein biologisches
Gebrechen, auf eine biologische Schlussverirrung — Blödsinn, Wahn-
sinn, Selbstmordmanie u. s. w. — beschränken, sondern sich unter dem
Drucke des Milieus zu einer antisocialen und angreifenden Macht ent-
wickeln.

Diese menschliche Gestalt ist von der Volksanschauung ganz unklar
aufgefasst worden, doch bis auf unsere Zeit ist sie noch nicht klar
erfasst worden, sie wird jetzt noch hartnäckig geleugnet, trotz der
schmerzlichen Enthüllungen der criminalistischen Anthropologie, dank
dem Einfluss des traditionellen und oberflächlichen Spiritualismus. Noch
immer stösst sich die heutige Wissenschaft an den vorgefassten Ideen
der classischen Lehre. Ihre Anschauungen mögen noch so sehr
mit der Wirklichkeit der täglichen Erfahrung übereinstimmen, sie
können sich in dem Uebel der geistigen Gewohnheiten auf den un-
durchsichtigen Linsen des gesunden Menschenverstandes nicht klar
genug abzeichnen.

Das Publicum kennt jetzt, dank den Gerichtschronisten, aus den
Werken der wissenschaftlichen Propaganda, den psycho-anthropologischen
Typus des geborenen Verbrechers. Doch es betrachtet ihn noch immer als
einen kaltblütig-gewaltthätigen Charakter, und das ist ein Irrthum. Der
geborene Verbrecher kann ein ruhig-blutdürstiger Mörder, ein gewalt-
thätig-brutaler Entarteter, ein in Folge einer sexuellen Verirrung, die
sich aus seiner mangelhaften physischen Organisation herleiten lässt,
raffinirter Wüstling, er kann aber auch ein Dieb oder ein Fälscher sein. Der
Widerwille dagegen, sich des Gutes eines Anderen zu bemächtigen, dieser
von dem socialen Leben in der Collectivität langsam entwickelte Instinct
mangelt ihm vollständig, doch er ist nicht intelligent genug, die naive,


1) Ferri, Anthropologie und Strafrecht, veröffentlicht in den Archiven für
Anthropologie und criminalistische Psychiatrie, Turin 1881. — Ferri, „Crimi-
nalistische Sociologie“ (dritte Auflage, A. Rousseau, 1892, Cap. 1). — Bonannd,
„Die Classificirung der Verbrecher und der Verbrecher aus Leidenschaft“, in den
Archiven für Psychiatrie, Turin 1895, siehe auch dessen Band über den Verbrecher
aus Leidenschaft, Turin 1896.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 135, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0135.html)