Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 136
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
deutliche Entwendung einer Brieftasche durch einen geschickten, civili-
sirten und straflosen Betrug, wie z. B. die Praktiker der pseudo-com-
merciellen Unternehmungen, der Speculation auf Werthpapiere, der
Börsenspiele etc. zu ersetzen.
Voltaire erklärte eines Tages, er wolle die Geschichte eines be-
rühmten Diebes erzählen und sagte: »Es war einmal ein Banquier.« Als
man ihn dann um die Fortsetzung seiner Erzählung bat, erwiderte er:
»Ja, damit ist sie aus«.
Der geborene Verbrecher ist manchmal mit einer Intelligenz
begabt, die der seiner Mitmenschen weit überlegen ist. Er kann sich
sogar in einer bestimmten Reihe geistiger Kundgebungen dem Durch-
schnitt der Menschheit überlegen zeigen. In diesem Falle verletzt er
keinen Paragraphen des Gesetzbuches und bleibt nur ein unmoralischer
Mensch, oder richtiger, ein Mensch ohne Moralsinn, ein antisociales
Wesen, eines jener Geschöpfe, die Alexander Dumas Fils in einer be-
rühmten Komödie die »Vibrionen« der Gesellschaft nennt; sie sind
geschickt, das Eigenthum eines Andern zu stehlen, ebenso wie sie
tödten, ohne das Messer oder den Revolver in die Hand zu nehmen.
Da der Typus des geborenen Verbrechers erst kürzlich von der
Wissenschaft klargelegt worden ist, so ist es natürlich, dass man ihn
in den Kunstwerken nicht häufig findet.
Um ihn vor der genauen Erklärung, die Cesare Lombroso ge-
geben hat, zu concipiren, bedürfte es des Genies Shakespeare’s oder
Dostojewskijs, des wunderbaren Beobachters der sibirischen Sträflinge,
oder des Talents eines Eugène Sue, des geschickten Schilderers der
Pariser Verbrecherwelt. Doch heute ist er in das Reich der modernen
Kunst getreten, in einer grossen Anzahl von Werken und namentlich
in den Romanen Emile Zola’s, die von der criminalistischen Anthro-
pologie inspirirt worden.
Ausser den sehr stark, namentlich in der Physiognomie hervor-
tretenden Merkmalen beobachtet man bei dieser Art von Verbrechern
einen vollständigen Mangel oder eine angeborene Athrophie des morali-
schen Sinnes, jener leitenden Kraft, die das Verhalten des Individuums
der Gesellschaft gegenüber regelt.
Dieser Sinn ist theilweise das Resultat der in socialer Con-
currenz erworbenen Erfahrung; er hat das besondere Charakteristicum,
dass er erblich ist. Diese Erblichkeit, dieser Instinct wird bei den ge-
borenen Verbrechern, die alle moralische Irren sind, durch einen patho-
logischen Zustand aufgehoben, der an einer mit der Epilepsie verwandten
Neurose erkennbar ist.
Ihr moralischer Wahnsinn zerstört nicht ihre Intelligenz, die sogar
oft in Folge eines Ersatzes der Natur dem Durchschnitt der Gesell-
schaftsclasse, der sie angehören, überlegen ist. Denn man kann sehr
stark entwickelte altruistische Gefühle und eine sehr mittelmässige In-
telligenz besitzen, man kann ebenso gut jedes moralischen Sinnes ent-
behren und geistige Eigenschaften besitzen, die allerdings nicht in
vollem Gleichgewicht stehen, die aber sehr fein, sehr scharf und sehr
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 136, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0136.html)