Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 137
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
mächtig für das Böse entwickelt sind, dank dem vollständigen Mangel
von Fesseln, Gewissensbissen und Hindernissen, die den rechtschaffenen
Menschen zurückhalten. Diese Fesseln bilden übrigens unglücklicher-
weise in unserem wirthschaftlichen System der freien Concurrenz,
d. h. in dem System indirecter und verkleideter Menschenfresserei eher
eine Schwäche als eine Kraft. Dante sagte mit Recht:
»Wenn die Kraft der Vernunft zur Macht und zum bösen Willen
hinzutritt, so ist es unmöglich, ihnen zu widerstehen.«
Der geborene Verbrecher ist nicht nur mit einer überlegenen
Intelligenz begabt, besonders wenn er es mehr auf Betrug als auf Ge-
waltthat anlegt, sondern seine Gefühle können sogar ausserhalb des
Moralsinnes fast normal sein. Noch mehr: wenn auch die rein egoisti-
schen Kundgebungen des Gefühls, wie z. B. der Rachedurst, die Be-
gierde, die Eitelkeit bei ihm stets durch die moralische Fühllosigkeit
übertrieben werden, so kennt er doch stets die ego altruistischen Ge-
fühle: die Zuneigung zur Familie, die Anwandlungen von Freigebig-
keit, Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit, wenn er sich eben gerecht zeigen
kann, ohne sein krankhaftes Ich in Mitleidenschaft zu ziehen.
Ich habe Gelegenheit gehabt, in einer psychologischen Studie
des geborenen Mörders1) zu beweisen, dass die scheinbare Regel-
mässigkeit seiner Intelligenz und seiner Gefühle seine tiefe moralische
Fühllosigkeit so vollständig verschleiern kann, dass sein wahrer Cha-
rakter denen entgeht, die die Experimental-Psychologie nicht kennen.
Es ist übrigens ebenso schwierig, die physischen Züge, die ihn
charakterisiren, zu erfassen, wenn man die Grundlagen der physiogno-
mischen Anthropologie nicht lange Zeit im täglichen Leben und unter
den Insassen der Gefängnisse und Zuchthäuser zur Anwendung ge-
bracht hat.
Der Typus des wahnsinnigen Verbrechers ist leichter zu erkennen,
wenigstens in einzelnen seiner Erscheinungen, die seltener vorkommen,
als man gewöhnlich vermuthet, aber selbst ungeübten Augen klar und
fassbar werden.
Wenn in jedem normalen Menschen ein Körnchen Wahnsinn
steckt, so ist die moralische Pathologie stets je nach dem Grade der
Anomalie bei den anormalen Wesen von einer mehr oder weniger
grossen geistigen Zerrüttung begleitet; denn das Verbrechen und der
Wahnsinn sind zwei Zweige des einen Baumes der menschlichen Ent-
artung, aus dem noch die angeborene Neigung zum Selbstmord und
zur Prostitution sowie alle Formen und Grade der Neurosen und
Psychosen herkommen.
1) Der Mord in der criminalistischen Anthropologie (der geborene Mörder
und der wahnsinnige Mörder) mit einem Atlas der anthropologischen Statistik,
Turin, Bocca 1895, S. 312—540.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 137, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0137.html)